Hans Joachim Teschner

 

 

 

 

Märchen,

Mythen,

Düvelskram

 

Tafel 6

Der Riese Nimmersatt

In alten Zeiten wohnte ein Riese im Vareler Wald, der so verfressen war, dass die Anwohner ihm den Namen "Nimmersatt" anhefteten. In der Regel fraß er dreiundzwanzig Stunden am Stück, bevor er sich zum Schlaf niederlegte. Aber selbst während des Schlafes wollte er nicht auf den Fressgenuss verzichten, und deshalb käute er dabei mit stieren Augen seinen Mageninhalt wieder. Man sagt, dass die heimischen Kühe diese Angewohnheit vom Riesen Nimmersatt abgeguckt haben.

Das Lieblingsgericht des Riesen bestand aus zwölf tausendjährigen Eichen, die er mit dreißig Wildschweinen garnierte. Eine Buchecker rundete den Imbiss ab. Nach jeder Mahlzeit schluckte er ein paar Findlinge, um seinen Blinddarm aufzuräumen und überhaupt zur besseren Verdauung. Der Druide des Waldes hatte ihm dieses Rezept ausgestellt, bevor er selbst Opfer der Fresssucht seines Patienten wurde. Manchmal, wenn es Nimmersatt nach einer Abwechslung auf seiner Speisekarte gelüstete, klopfte er das Gebüsch nach oldenburgischen Rittern ab, die sich bei der Jagd nach Jungfrauen darin verheddert hatten. "Erhabensten Dank, barmherziger Riese Nimmersatt", sprachen die befreiten Ritter erleichtert, "ohne deine Hülfe könnten wir gar keine Jungfrauen mehr hatzen, sondern müssten im Gebüsch auf den Herbst warten und uns mit blöden Ritterspielen gegenseitig auf den Wecker gehen." Ganz geheuer war es ihnen im nachtkalten Schatten des Riesen nicht. Zu Recht, denn Nimmersatt ließ sich die oldenburgische Spezialität gut schmecken und spuckte die ungenießbaren Teile über die Stadt hinweg in den Südender Groden.

Dort hausten biedere Wegelagerer und Alkoholschmuggler. "Verdammich", polterte deren Anführer Gödeke Isenpott, "die kostenlosen Zuwendungen des diesbezüglichen Riesen finden als solche keineswegs meine ungeteilte Zustimmung." Gödeke war wegen seiner Bildung gefürchtet; die Schmuggler flüsterten sich zu, er sei sogar im Besitz der so genannten Bibel, eine Art Gebrauchsanweisung für die grausigsten Greueltaten, die ein Mensch sich je ausgedacht habe, grausiger noch als die Spuckgeschosse des Riesen Nimmersatt. An manchen Tagen verdichtete sich dessen Bombardement aus dem Vareler Wald so sehr, dass sich der Himmel verdunkelte - Gräten und Gedärme prasselten auf die armseligen Schmugglerhütten, gefolgt von Raucherbeinen, Eichenbohlen, polnischem Zahnersatz und halbverdauten Schweinshaxen, die entweder die Ehefrau oder die Hausziege oder beide unter sich begruben. Wer sollte da noch für das Abendessen sorgen? Wer die heimkehrenden Männer mit einem kräftigen Fluch begrüßen?

 

Wenn Nimmersatt dann noch einen Rülpser hinterherschickte, glaubte man das Ende der Tage nahe, und um das Unheil abzuwenden, erschlugen die Schmuggler erst einmal alle Bettelmönche und christlichen Missionare. Eine Methode, die sie schon öfters mit Erfolg praktiziert hatten.

Mit den Jahren wuchs der Abfallhaufen des Riesen zu einem mächtigen Hügel an, der die Marsch überschattete und von der Bevölkerung furchtsam gemieden wurde. Wer beabsichtigte, seinen Fuß in diese Gegend zu setzen, verfasste zuvor sein Testament, gab eine Totenmesse in Auftrag und seine Kinder im Waisenhaus ab. Unter Selbstmördern galt es als schicklich, ihr trauriges Vorhaben mit dem Satz anzukündigen: "Ich gehe zum hohen Berg."

Es darf nicht verschwiegen werden, wie traurig auch das Leben des Heimatdichters Georg Fuseler endete. Er, der wie so viele seiner Zunft den geistigen Getränken verfallen war, hatte sich wiederholt zum verrufenen Hügel aufgemacht, um sich seinen Stoff von den Schmugglern zu besorgen. Die Burschen waren hartgesotten, zudem hatte sie der Dauerbeschuss des Riesen reizbar gemacht. Ein falsches Wort, und sie griffen zum Messer! Das falscheste aller Wörter aber durfte in ihrer Gegenwart keiner in den Mund nehmen: Nimmersatt. Wir wissen heute nicht, welcher Teufel unseren Heimatdichter geritten hatte, als er auf seiner letzter Tour versuchte, die Schmuggelware mit einem selbstverfasten Gedicht zu bezahlen. Wir kennen aber dessen Anfangszeilen:

 

"Prächtiger als Moor und Watt

blubbert Meister Nimmersatt".

 

Wer nun glaubt, dass die Schmuggler den Vermessenen auf der Stelle erdolchten, täuscht sich. Im Gegenteil, Gödeke Isenpott zeigte sich für die feinen Stilblüten erkenntlich. "Welch hohle Worte!" rief er, "nimm als Dank eine Flasche meines Extremschnapses, der eigens für Künstler deines Formats destilliert wurde. Und nun zieh von dannen, denn sonst wird uns gar zu heiß unter der Birne."

Auf dem Rückweg nahm der Dichter einen tiefen Schluck aus der Pulle, dann noch einen und - weil es Oldenburger Recht ist - einen dritten. Ein vierter Schluck war ihm nicht mehr vergönnt. Den Grund verrät uns ein Klagelied, das Georg Fuseler mit erstarrenden Fingern noch in den Sand ritzen konnte:

  

"Heut hatt ich keinen Dusel

War just in Hohenberge

Sie reichten mir nen Fusel

Der sorgt für volle Särge"

 

Dann brach sein Auge.

Der Riese Nimmersatt aber soll noch ein paar Jahrhunderte im Vareler Wald gefressen und gespuckt haben. Allmählich schrumpften die Vorräte an tausendjährigen Eichen, Wildschweinen und oldenburgischen Rittern, und Nimmersatt wanderte aus in eine andere Sage, wo er unter dem Pseudonym Rübezahl untertauchte.

Hinterlassen hat uns der Riese die Unrathaufen in und um Hohenberge, die bis heute die Deichlinie überragen. Einige wenige Ur-Vareler wissen um ein weiteres Erbe des Riesen: ein erhaltener Fußabdruck im Vareler Wald - die Sandkuhle. Aus der Form der Vertiefung schließen die Archäologen, dass Nimmersatt einen Klumpfuß gehabt haben muss. Nach einer anderen Theorie kann es sich bei der Kuhle auch um einen Nasenabdruck handeln, da der Riese die Angewohnheit hatte, im Erdreich nach Findlingen zu schnobern. Der Gesteinsblock mitten in der Sandkuhle scheint diese Theorie zu bestätigen.

  

 

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