Hans Joachim Teschner
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Märchen, Mythen, Düvelskram
Tafel 13 Eine kurze Geschichte der Humanität Grausam waren die Sitten zu Zeiten der friesischen Häuptlinge. Und als die Edle Herrschaft Varel in gräfliche Hände überging, änderte sich auch nicht viel. Wenn beispielsweise ein Handwerker oder Händler sich erdreistete, einen gräflichen Apfel zu klauen, wurde ihm die Hand abgeschlagen. Das Abschlagen eines Körperteils war überhaupt die beliebteste Freizeitgestaltung der verschiedenen Grafen. Die Liste der Vergehen und ihrer Ahndungen war lang. Hier ein kleiner Ausschnitt der Regulierungsmaßnahmen:
Vorlautes Husten: Zunge ab Kecker Blick auf die Gräfin: Augen raus Schneuzen in der Christmette: Nase ab Ungekämmt am Arbeitsplatz: Haare ab Tragen eines Minirocks: Knie ab Übler Mundgeruch: Mandeln raus In der Nase bohren: Finger ab Mit dem linken Bein aufstehen: Fuß ab
Genaugenommen gab es keinen Körperteil, welches nicht mit Strafe bzw. Abschlagen oder Herausreißen bedroht wurde. Angesichts der strengen Gesetzestreue der Grafen wuchs die Zahl der Invaliden auf eine stattliche Höhe. Keine Hütte, in der nicht ein Amputierter seine Untat sowie den Grafen verfluchte. In den Gassen taumelten Leute ohne Kopf gegen Laternenpfähle, andere hatten keinen Mors mehr, auf den sie sich setzen konnten. Unzählig waren die Unglücklichen, die ihrer Fingernägel beraubt waren, gefolgt von der Schar der Besitz- und Kraftlosen. Schlimm stand es um die vollständig Entleibten: Sie konnten mangels Masse nicht zur Beichte gehen und trieben als auf ewig verdammte Untote ihr Unwesen. Allerdings vermeldet die Chronik auch rühmliche Ausnahmen unter den gräflichen Abhackern. Sie - die Ausnahmen - gereichten der Humanität zu Ehr und Wohlgefallen. Freiin Elisabeth von Unkraut zum Beispiel, die Tochter eines wort- und radebrechenden Edelmanns aus gräflichem Gestüt, veranlaßte unter strikter Geheimhaltung, daß einem Untertanen, der versehentlich in den Kotklumpen ihres Schoßhündchens getreten war, nicht das ganze Bein, sondern nur der Fuß abgehackt wurde. Zwar hatte der Delinquent wegen der Geheimhaltung keinen Vorteil von dem Erlaß, dennoch muß die humanitäre Gesinnung der Freiin von Unrat lobend erwähnt und - hiermit sei es vollbracht - öffentlich zu Schau gestellt werden.
Vergeblich sucht der Historiker nach einem weiteren Beispiel christlicher Nächstenliebe, doch halt, durch den Neuenburger Wald kommt uns der Junker Konrad vorgeritten, prächtig anzuschauen in seinem samtenen Wams. Wie die Jungfrauen vor und hinter ihm einherkreischen und sichtlich wolllüsten! Sogar mit drei l, wie es die neue Rechtschreibung erfordert. Ihrer Lockrufe überdrüssig trabt Junker Konrad gen Varel, denn er gedenkt, den einen oder anderen unbotmäßigen Fußvölkler zu füsilieren bzw. dessen Gliedmaßen abzuhacken. Da aber steht Fräulein Elisabeth "Sissi" von Unrat auf des Weges Bohlen, sprich auf dem Bohlenweg. "Gemeiner Herr!" ruft sie hochlodernd vor Empörung, "in meinem Herzen ist kein Platz für blutrünstiges Gebaren." Die Legende will uns weismachen, daß Konrad von der Schönheit Sissis so geblendet ist, daß er bis an sein Lebensende eine Brille mit geschwärzten Gläsern tragen muß und aus lauter Dunkelsicht keinen Arm oder Kopf mehr abzuhacken in der Lage ist. Leider irrt die Legende, und deshalb kehren wir an den Ort der Begegnung zurück, diesmal korrekt in der Vergangenheitsform: Junker Konrad aber brauste über Sissi hinweg, ohne ihr Wortspiel zu vernehmen, denn er war erblinded vor Liebe. Niemand anderer als der Freiherr Otto aus Jethausen hatte es ihm angetan! Es kann freilich auch dessen dickbrüstige Haushälterin Christiane Fuulpest gewesen sein oder - die Reisetagebücher Konrads schweigen beträchtlich darob - deren Nichte Isolde, die an Fettleibigkeit im gleichen Jahr ins Jenseits ging, ohne dem Junker die erwünschte Nachkommenschaft angedeihen zu lassen. Auf dem Wege jedenfalls zum Buhlen Otto hackte der Junker noch manch einem Untertan das eine oder andere Gliedmaß ab, und wir Nachgeborenen vermögen schwerlich zu erkennen, was den Junker mit der viel beschworenen Humanität verband. Zu seiner Entschuldigung sei gesagt: Die Zeiten waren hart! Sie waren so hart, daß der Heimatdichter Georg Fuseler sein Handwerk aufatmend zu den Akten legte, nachdem ihm Freiherr Otto den Kopf abgehackt hatte. Fuseler hatte die Frechheit besessen, den Zeugungsakt Ottos mit dem des Junkers - oder war es umgekehrt? - in einem Poem zu lobhudeln:
"Otto treibt's mit Konrad, Konrad läßt sich's wohl gefallen, während Sissi jammert. Schiet, mir ist der Reim entfallen."
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