Hans Joachim Teschner

 

 

Das Grausen


Texte & Leichen

 

Tatort: Der Pinsel des Grauens

Die Todesfuge

Die Humanbeule

Rajifas Freitod

Das Scheiße

Dass Studenten dem täglichen Stunk in ihrer WG ausgesetzt sind, ihr Bafög mit Jobs an der Aldi-Kasse aufbessern, schließlich nach jahrelangem Pauken, Versagensängsten und mühsam erarbeiteten Seminarscheinen ihr Examen absolvieren, um dann als schlechtbezahlte Teilzeitlehrer an einer Grundschule zu landen, in der Gewalt und Drogenkonsum dominieren: Das ist eine vielfach kolportierte Mär. Wir Fernsehzuschauer wissen es besser. Denn in den Krimis und Daily Soaps, die im studentischen Milieu spielen, spiegelt sich der wahre, der wirkliche Alltag an unseren Universitäten wieder. 

Das nachstehende Skript zu einem Campus-Thriller besticht denn auch durch Realitätsnähe und Detailtreue.

 

Tatort: Der Pinsel des Grauens

Mit quietschenden Reifen jagt ein Porsche Boxster (205 PS) durch die engen Kurven der Elbchaussee in Hamburg. Am Steuer sitzt die Kunststudentin Yvonne (90 – 60 – 90). Dass sie Kunst studieren muss, erkennt man an dem dramatisch auf dem Beifahrersitz drapierten Zeichenblock nebst Pinselsortiment sowie an der Designer-Sonnenbrille (Joop), die aus ihren blonden Haaren (Gaultier) wächst. In ihren grünen Augen (Linsen: 3,5 Dioptrien) glitzert der Hunger nach künstlerischer Unterweisung resp. sexueller Befriedigung, der keinen Aufschub duldet. Ein letzter Blick auf ihre Cartier (20 800 Euro) – es ist fünf vor Orgasmus –, dann lenkt sie das Cabrio in die Zufahrt (570 Meter lang) eines herrschaftlichen Anwesens (5 Mio. Euro). Das handgeschmiedete Tor steht bereits offen, im Park tummeln sich domestizierte Rehe sowie hochgezüchtete Roadster der S-Klasse. Vor dem Säulen (dorisch) des Portals kommt der Porsche zum Stehen. Yvonne streckt ihre kilometerlangen Beine aus der Fahrertür und gewährt der Kamera einen tiefen Blick in ihren Schritt (drei Sekunden). In diesem Moment vernimmt sie ein Rascheln, dessen Verdächtigkeit durch gleichzeitig aufschrillende Violindissonanzen angeheizt wird.

“Ach, das preisgekrönte Windspiel ‚Bakunin‘ wird sich im erlesenen Gebüsch verheddert haben”, splittert ein Gedanke durch ihre Hirn (1,673 Gramm), aber das kann man im Film natürlich nicht sehen, ein Umstand, der zu vielerlei Deutungen Anlass gibt und den Nervenkitzel über Gebühr (2 Euro 50) auf die Folter spannt. Yvonne schließt den Eingangsflügel auf, als sei sie hier zu Hause, hastet durch die Vorhalle (370 qm), reißt dabei ihr superenges Kostüm (Prada) von den Schultern und wirft es achtlos auf die Marmorfliesen. Nur noch mit einem Tanga (2 qmm) bekleidet stößt sie die Tür zum kombinierten Studio/Beischlafzimmer auf. Doch der Anblick, der sich ihr bietet, lässt ihre Vorfreude unter den Gefrierpunkt sinken: Der Hausherr, ihr Mentor und Kunstprofessor Dr. Schübel, lagert zwar malerisch entkleidet auf dem Divan, doch ohne jedes Leben im Leib. Ein bizarrer roter Puschel oder Troddel klebt an seinem rechten Ohr: Es ist der Quast eines Pinsels, dessen Stiel tief in den Ohrgang bis ins Gehirn des Professors getrieben wurde. Blut, Blut, Blut! Enttäuscht, ja geradezu betrübt, sackt Yvonne auf den Perserteppich (1,2 Mio. Knoten pro qm). Noch im Sturz nimmt sie wahr, wie ein ihr merkwürdig bekannt vorkommender durchgestylter Typ hinter der Gardine hervorspringt und nach draußen flüchtet.

Tage später wird die Leiche von der Putzfrau entdeckt. “Scheiße”, flucht Kommissar Flotzke, als er auf einem Fleck ausrutscht. Es ist das Sperma des Toten, der in seinen letzten Zügen versucht hatte, mittels einer Dauerejakulation (4 Min.) den Namen des Mörders, die Tatzeit und das Motiv auf den Teppich zu spritzen. Doch selbst eine Spektralanalyse im Polizeilabor kann die zertretene Botschaft nicht wieder herstellen.

“Scheiße!” brüllt Flotzke, zieht seinen Revolver und erschießt das Windspiel ‚Bakunin‘, das sich seit dem Villenbesuch in seiner ausgebeutelten Hose verheddert hat.

“Kann man so nicht sagen”, schnauft der Fettsack von Laborarzt, “aus der Genanalyse geht hervor, dass Professor Schübel männlich war und im sechsten Monat schwanger. Und wenn man die Klecksreste passgenau zusammenfügt, ergeben sich vier Buchstaben:

 Y V O.”

“Scheiße!” schreit Flotzke, “der Kerl konnte ja nicht mal richtig zählen. Jetzt knöpf ich mir seine Kunstklasse vor.”

“Nicht nötig. Es gibt nämlich nur ein Wort mit vier Buchstaben, das mit Yvo anfängt.”

“Scheiße!” Flotzke hämmert sich an die Stirn. “Darauf hätte ich auch selber kommen können. Und?”

“Was und?”

“Wie heißt das Wort denn nun?”

Genüsslich lässt der Fettsack ein paar Stunden und 34 Scheiße verstreichen, um seinen Triumph auszukosten. “Das Wort heißt Yvonne.”

“Scheiße, der alte Trick, aber mit dem Früchtchen fahr ich Schlitten.”

Derweil ist die Studentin längst auf den Malediven. Sie jobbt dort als Model, um ihr Studium zu finanzieren. Mit dabei ist ihr Kommilitone Marco, der einmal den VW-Konzern erben wird und Erfahrungen im Ausland sammelt. Heute steht er hinter der Kamera, morgen reitet er als Trend-Scout durch die Schwulenbars von New York, übermorgen leitet er einen Adventure-Trip für Topmanager usw. Und immer ist er in der Nähe von Yvonne! Gerade modelt sie die Waschmaschinenseite für den Otto-Katalog. Die Einstellung zeigt sie als nackte Eingeborene am Strand, die ein Foto von Nietzsche an ihren Busen rubbelt und dazu verführerisch flüstert: “Waschvollautomat mit Knitterschutz”.

“Zu intellektuell”, nörgelt der Marketing-Chef, aber nachdem er mit Yvonne eine heiße Nacht unter Palmen verbracht hat, kann er gar nicht mehr genug intellektuelle Waschmaschinen marketingen. Auch der Tauchlehrer der Insel fährt in die Untiefen der Nietzeschen Philosophie ein, und dann lungern da noch drei finstere Figuren der Russenmafia herum, die bei der Studentin einen Exkurs in westlicher Sittenlehre belegen.

Eifersüchtig verfolgt Marco die Werbekampagne. “Du verkaufst dich unter Wert”, wirft er Yvonne vor.

“Pah”, sagt sie.

Zurück in Hamburg steigt erstmal eine Sause. Sekt fließt, und Dozent Dr. Fledder, der karrieregeile Nachfolger des ermordeten Professors, steigt über Yvonne. “Uahh”, hechelt er und sinkt in die Satinlaken, “das war meine Steigernordwand.” Yvonne aber entschwindet, um ihr Studium fortzusetzen.

“Scheiße!” Kommissar Flotzke zieht einen Pinsel aus Fledders Ohr. “Ein Serientäter. Dieser Yvonne kommt aus dem Kunststudentenmilieu, darauf verwette ich meine Beutelhose.”

Doch die Kunstklasse, lauter knackige Models und gebräunte Millionen-Erben, schweigt sich aus. “Yvonne? Nie gehört.” Als Kommissar Flotzke entmutigt aus dem Atelier stolpert, stößt er mit einem Tennisschläger zusammen. Der Schläger gehört zu einem durchgestylten Studenten: Marco! Marco kommt soeben aus Paris, wo er die French Open gewonnen hat. Jetzt will er mit dem Racket noch schnell einen Frauenakt malen, bevor er zu den Filmfestspielen nach Cannes jettet. Flotzke schreit “Scheiße!” und nimmt den Studenten wegen Mordverdachts fest.

“Hör mal, Fatzke”, nölt Marco gelangweilt, “ich ruf mal eben meinen Freund an, den Innensenator, und dann geht dir das Wasser auf Grundarsch.”

“Ach ja”, antwortet Flotzke zynisch, “vielleicht braucht der Herr auch noch ein paar Münzen für die Telefonzelle, häh?”

“I wo, ich hab ja ein Handy.”

“Verraten!” brüllt Flotzke, “Yvo, Yvo! Das war’s dann wohl.” In Handschellen verlässt der Student die Stätte seiner Berufsausbildung.

Letzte Einstellung: Die Tore von Santa Fu schließen sich. Davor Marco mit einem Handköfferchen (Vuitton). Marco verabschiedet sich vom Innensenator (direkte Bismarck-Nachfolge), steigt in seinen Lamborghini (575 PS) und braust höhnisch lachend davon. Zurück bleibt ein verbitterter Kommissar, der eine Curry-Wurst in seiner Faust zerdrückt.

Lauftext des Abspanns: Yvonne hat im zweiten Anlauf das Examen mit Auszeichnung bestanden. Beim ersten Versuch hatte sie die Universität nicht gefunden. In ihrem Penthouse entdeckt die Putzfrau die Leiche von Prof. Rohlaut, dem Nachfolger von Dr. Fledder. Mit einem angespitzten Pinsel hatte der Mörder ihm den Garaus gemacht. Der Erpinselte aber konnte mit letzter Kraft noch seinen Stundenplan und den Börsenkurs der VW-Aktie auf das Parkett ejakulieren: Yvo...




 

 

 

 

 


Der "Pinsel des Grauens" ist als Exposé angelegt und war einer der Siegertexte des Krimiwettbewerbs "Im Nordwesten mordet sich's am besten". Veröffentlicht wurde er in der Anthologie der besten Beiträge 2007 (Schardt Verlag Oldenburg).

 

 


 

 

Die Todesfuge

 

 Mein Kaffee wurde kalt, und meinen Kirschkuchen mochte ich nicht anrühren. Schon eine geschlagene Glocke lang wartete ich im Schlosscafé, aber Beate ließ sich nicht blicken. Von den übrigen Tischen raschelte das gedämpfte Schwatzen ältlich möblierter Damen, die eine Pause beim Shopping einlegt hatten und sich mit Kuchengabeln den Nachmittag einverleibten. Keine Musik aus kleinen barocken Lautsprechern störte das Summen, nur ab und an ein Seufzer; kein Aufschrei. Unschrill auch die Gesprächsthe­men: Hans-Dieter lässt immer alle fünf Lampen brennen, dabei zahlt er nicht mal Miete, und unter der Dusche hat unser Herr Sohn natürlich viel Zeit, du glaubst es nicht, und wenn ich dann mal Abwaschwasser brauche, ist es lauwarm, aber das stört die Jugend nicht.

Vor Weh und Barmen führten sich die Mütter missratener Söhne einen Schock Sacher, Haselnusskranz oder den Gugelhupf in den Mund, wobei die Kellnerinnen das mampfende Weibsgequalle unablässig umkreisten, und wenn einmal versehentlich ein Klacks Schlagsahne auf die Tischdecke fiel, wurde diese augenblicklich durch eine frische ersetzt. Sauberkeit übertraf hier eine Gemütlichkeit, wie man sie sich besser lieber nicht hätte ausdenken können.

Gerade wollte ich mir die Unpünktlichkeit Beates ins Gedächtnis schrei­ben, wollte schon zahlen, und der Mißmut stand mir wohl gut zu Buche, da kam sie und setzte sich mit düsterer Miene an meinen Tisch. Bei ihrem Ein­tritt hatte sich das Café für einen Augenblick verdunkelt, und die Kaubewe­gungen ringsum erstarrten. Hans-Dieter fiel der Vergessenheit anheim, die Dusche lief im Kreis, und die fünf Lampen würden nun ewig brennen. Beate trug einen schwarzen Rock und einen schwarzen Strickpullover und schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe und schwarze Gedanken. "Wirst du zu meinem Begräbnis kommen?" raunte sie dunkel, und sie senkte ihre schwarzen Augen in meine Moskauer Nächte. "Aber gewiss doch!" rief ich, und ich spürte, wie eine wohlige Wärme mich durchströmte. Mit W fängt ja bekanntlich auch Wollust an.

"Ich meine es ernst", sagte Beate.

"Wes Schmerz ich nenn, des Herz verbrenn", pflichtete ich ihr bei und machte Anstalten, meinen Kirschkuchen anzustechen, als ihre schwarz ­lackierten Fingernägel sich in meine Hand krallten. In meinem Rücken vernahm ich die Blicke der Mütter missratener Söhne. Kein Schmatzen mehr. Kein Murmeln, kein Tellerklappern.

"Für Anfang November habe ich die Totenmesse bestellt", sagte Beate leise, "ich habe Krebs, der Arzt gibt mir höchstens drei Monate."

"Freut mich", rief ich um das andere Mal "ich bin dabei, versprochen." Mir wurde bewusst, welch Trost ein guter Freund in schwerer Schieflage bedeu­ten kann, und ich glaube, auch die Damen an den Nebentischen wussten dies zu schätzen. Trotzdem, die Sache nahm eine komische Wendung. "Wo hapert's denn?" fragte ich in klangvollem Duktus und schweifte um mich. Hatte ich gerade ein Ächzen vernommen?

"Unterleibskrebs, aber du kommst doch wirklich zu meiner Beerdigung? Das ist mir sehr wichtig."

Ich versicherte ihr nochmals mein Beisein an ihrer Grabstatt, ja sogar, dass ich eine zweckdienliche Jacke anlegen und tröstende Worte bereithalten würde. "Da ist noch etwas", fuhr sie unbeeindruckt fort, "das Ergebnis der Mammographie, schau, fühl mal." Sie zog ihren Pullover hoch und entblößte ihre Brust. Schwarz, marmorhart glänzten ihre blanken Brüste, und meine Fingerspitzen ertasteten keine einzige weiche Stelle, nur Basalt, Eibe; ein monolithischer Altar. Statuen wie diese und sogar ein ewiges Licht hatte ich schon in Kirchen gesehen, aber die Gläubigen hatten keinen Hehl daraus gemacht geschweige denn Totenmessen bestellt.

 

Fragwürdig, recht fragwürdig. Natürlich weiß ich, dass, wer solch dünnen Humor sät, bestenfalls Kartoffeln erntet, und selbst dann sollte er seinem Herrgott ein Dankeschön ins Abendgebet flechten. Und Milchbrei über sein Haupt schütten. Aber selbst der honorigste Autor kommt mitunter an die Grenzen seiner Gestaltungskraft, zumal, wenn die Ereignisse, die er sich vorgenommen hat zu beschreiben, seiner seriösen Feder entgleiten und in kapriolischem Überschwang auf dem Zwerchfell seiner Leser herumkobolden. Das Leben nimmt sich halt, wonach ihm dürstet. Dem stand auch mein Rendezvous mit Beate in nichts nach, gleichwohl es mir unaufhaltsam durch die Finger rann. Nach einem Joghurttörtchen war ihre Zunge in geradezu verschwenderischer Weise aufgeblüht.

"Früher, als ich 14 Jahre alt war", und ein Lächeln huschte über das Gesicht der schwarzen Madonna, "früher schwebte das Honigglück durch mein Tagewerk." Ja, so sprach sie tatsächlich. "Mein Vater kaufte mir einen Hund, einen putzigen Rauhaardackel. Jeden Tag musste ich mit ihm spazie­ren gehen, und jeden Tag zwang ich ihn zu einem kleinen Kunststückchen. Immer wieder musste er mir ein Stöckchen holen, mit dem ich ihn dann bestrafte und quälte. Eines Tages gab ich Balduin, so hieß mein Dackel, einen Karton voll Styroporkugeln zum Fressen, und da er sich sträubte, half ich mit dem Stöckchen nach. Meine Schwester fand ihn später steif und wie aufgeblasen auf der Müllkippe. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, aber mein Vater hielt mir eine muntere Predigt, obwohl er dem Vorfall keinen Pfennig nachweinte und schenkte mir einen anderen, ungebrauchten Hund."

"Und danach", erinnerte ich sie, "danach hast du angefangen zu dichten."

"Oh ja, meine Zeilen aber brachten meine Mutter unter die Erde. Mein Gedicht tötete. Es hatte keinen Titel und ..."

Ein Schluchzen unterbrach sie. Zwei Mütter missratener Söhne hatten die gelbe Tüte gehisst. Die Kellnerin brach aus allen Dämmen. Eine karge Melodie erhob seinen Balsam und goss Tränen in das nämliche Geschick. Wohin, Karneval, geht deine Vereinbarung? Und vieles andere mehr. Die Geschichte von ihrem todbringenden Gedicht hatte Beate mir schon einmal hinterbracht, und ich sah keine Veranlassung, sie zu bezweifeln. Hatte sich doch mir selbst ein ähnliches Erlebnis tief in die Wurzeln meines Gemütes eingegraben. Ort, Zeit und Raum der mysteriösen Katalepsie war eine Rockveranstaltung in Langenhagen. Im Saal, in dem die Rockmusik ausgetragen werden sollte, verharrten jugendliche Menschen, die gemeinsam Geräusche und Gerüche absonderten. Schließlich kam der Star der Rockgruppe auf die Bühne und rezitierte ein Lautgedicht in der Form einer kunstvollen Fuge. Daraufhin fiel ein kreischendes Mädchen neben mir tot zu Boden. Mit dem Gedicht konnte ich damals nicht viel anfangen, aber die strengen Zeilen hatten sich mir unauslöschlich eingebrannt:

 

Wann tutest

Wann tu

Test

Eins zwei

Test.

 

Später erklärte mir ein befreundeter und exzellenter Musiker, der mit seiner Bassgitarre praktisch sein Leben vergeudete, der besagte Text sei kein Lautgedicht gewesen sondern eine englischsprachige Zeitansage ("One, two") zum Erproben einer "PA-Anlage", wie er sich sachkundig ausdrückte. Außerdem sei das Mädchen sicher nur ohnmächtig geworden, dies sei zwar nicht bei der Zeitansage aber ansonsten üblich und faktisch Vorschrift, ich solle mir also deswegen keine Haare raufen. Was ich befolgte, aber einige Zweifel blieben.

Hier nun freilich, im Schlosscafé und unter den klaffenden Augen enttäuschter Mütter, galten andere Gesetze und die Worte hatten noch nicht von ihrer vernichtenden Kraft eingebüßt. Beate erhob sich, dies zu bekunden und verlor sich in Anklagen, deren gemeinsamer Nenner sich reziprok zur Kälte ihres schwarzen Busens hob und senkte und die Gemeinludrigkeit menschlicher Exzesse Schindluder strafte.

"Von dem Verlust meiner Mutter erholte ich mich nicht!" rief sie. Welch Verlautbarung! Welch Begehr! Welch farbenprächtiges Panorama! Ihre Brüste krachten, Splitter drangen aus ihrem Pullover.

"Meine Texte morden.

Mein Gedicht bringt den Tod.

Wer es liest, erblindet schon zuvor.

Wer es hört, trägt Mühsal im Großen und Ganzen.

Wer es riecht, muss an Rosendornen ertrinken.

Wer es leibhaftig wird, muss stündlich mit Quecksilber gurgeln.

Wer es mit sich herumträgt, soll kein Qual der Welt versäumen, so nicht im Himmel wie auf Pferden und gar nicht in der Wiesen Hain.

Wer mit ihm schläft, verliert die gerade Linie und verkrümmt.

Wer über ihm kreist, wird mit Magnetismus und Monatsgehalt gestraft.

Wer es beiwohnt, verdirbt an Röchel, Schweiß und Video.

Wer es an sich lässt, unterliegt dem Ausschlag und dem Redefluss.

Wer mit ihm tanzt, den fallen die Zecken an.

Wer es mit der Zunge berührt, verfällt dem elenden Schlaf, und der Veits­knüppel hält erbarmungslos Gericht.

Wer ihm die Luftpumpe vorhält, der muss die Wurzel ziehen aus Unendlich.

Wer sich ihm nähert, dem trocknen die Hosen aus.

Wer sich ihm hinwendet, ist des Satans fetter Eidam.

Wer ihm einen Blick schenkt, verbrennt in der Nesseljauche und stinkt für immer.

Wer es mit Öl bestreicht, dem vergeben die Schwanzlurche."

 

Beates weit geöffnetes Maul durchmaß in Bocksprüngen den Gastraum, und ihre furchtbaren schwarzen Augen fuchtelten in dem tonlosen Gelärm der entsetzten Mütter herum: 

"Und es wird kommen das ungarische Gulasch.

Und es wird öffnen sich der pralle Schlauch.

Und es wird bügeln das starke Hemd.

Und es wird zählen von 2 bis 15."

Nunmehr, als sei der Leibhaftige in sie eingefahren, erklomm Beate ihren Stuhl und zog einen verknüllten Zettel aus dem Nichts. Ein schrecklicher Verdacht gleißte in mir auf: Wollte sie sich etwa mit dem Zettel erhängen?

Es kam schlimmer, denn sie entfaltete das Papier, strich es glatt, um daraus vorzutragen, und ihre Stimme spie Blut, Blattern und Blasphemie:

"Wann?"

Ein gellender Schrei unterbrach sie, die Kellnerin war zusammen­gebrochen.

"Wann tu."

Die Todesfuge!! Panik umklammerte mit eisigen Fingern unsere Herzen. Entsetzt starrten wir auf die schwarze Erscheinung. Eine grauhaarige Mutter missratener Söhne kollabierte, sackte schlaff unter den Tisch und riß die Decke samt Tassen und Tellern mit sich.

"Wann tu

Wann tu!"

Grauenhaft. Sie würde uns alle in den Abgrund stürzen. Mein Atem stockte. Vor der Toilettentür ging eine vollschlanke Dame in die Knie, lief blau an und erlosch im Zustand der knappen Luft.

"Eins zwei!"

Leichengeruch, Pest und kreischendes Opferlamm. Wir waren verloren. Ich bäumte mich auf, warf mich mit einer unmenschlichen Anstrengung gegen Beates Stuhl, doch es war bereits fünf nach zwölf, und das letzte, was ich noch vernahm, glich einem Feuersturm der Hölle:

"Test!"

 







In dem Roman "Nüchtern geht's auch nicht" wird nicht nur getrunken. Es werden auch Geschichten erzählt, wiewohl der Roman selbst eine Geschichte in einer Geschichte ist. Die "Todesfuge" ist eine Geschichte in der Geschichte der Geschichte.
Veröffentlicht wurde der Roman 1999 im Lappan Verlag. Inzwischen  eingestellt. Näheres auch auf der Site Literarium.
 

 


 

Die Humanbeule

Springprozessionen in gesteißelten Versen

 

Der Hottentott, der Hottentott

wie wild auf seine Klampfe kloppt.

 

Es jodelt laut die Sennerin

sie klebt sich Edelweiß ans Kinn.

 

Der stark behaarte Kartograph

ist auf Frau Müller-Mangold scharf.

 

Die Derwischfrau, die Derwischfrau

hupft wie ein Geis im Morgentau.

 

Schon lange schwärmt die Großmutter

von einem Date mit Martin Luther.

 

Der Vogelfreund, der Vogelfreund

vergebens durch die Arktis streunt.

 

Man staunet, wie die Gänsemagd

den Federkiel zugrunde nagt.

 

Der Kannibal, der Kannibal

schleicht nackig um den Marterpfahl.

 

Der imposante Kapitän

kann abends nicht mehr grade stehn.

 

Der tolerante Chinamann

verköstigt auch den Taliban.

 

Verzaubert spürt der Taliban

das Glutamat im dicken Darm.

 

Der faustisch düstre Darmchirurg

seziert zu Haus ne Essiggurk.

 

Den Schnaps, den lässt der Bauer liegen

es sind die Kinder, die ihn kriegen.

 

Es spuckt der bleiche Somnambul

des nächtens von des Daches Stuhl.

 

Das esoterisch Kräuterweib

mit Dünnpfiff um die Ecke geigt.

 

Der Baumarkthilfsarbeiter

weiß meistens auch nicht weiter.

 

Die Braut, die Braut

flickt ungeschlacht die Jungfernhaut.

 

Der Jägersmann, der ist kein Freund

vom Treiber, der durchs Dickicht streunt.

 

Tot schießt der Jägersmann den Treiber

und wirft ihn auf die Hasenleiber.

 

Der Treiber haucht ein letztes Wort

zum Jägersmann, den treibt es fort.

 

Ach, klagt der Jägersmann dem Weibe

der Treiber stank am ganzen Leibe.

 

Das Weib hat dann dem Jägersmann

in ihrem Bette wohlgetan.

 

Der missgelaunte Dachdecker

erschlug heut Nacht den Stadtbäcker.

 

Die neue Postzustellerin

hat stets nur Diebesgut im Sinn.

 

Schaurig hallt es uns entgegen

wenn die Förster Bäume sägen.

 

Das gertenschlanke Model

vergnügt sich mit nem Troddel.

 

Das Maderl, das Maderl,

das beißt der Kuh ins Waderl.

 

Klammheimlich schmückt die Suffragette

sich mit ner falschen Perlenkette.

 

Mit Schmackes haut die Amme

die Windel in die Pfanne.

 

Wirr fuchtelt hier der Moralist

dabei er auf die Füße pisst.

 

Das Flaschen- und das Dosenbier

ist weder Mensch noch Beuteltier.

 

 






Wir werden Zeuge humanoider Selbstentartung in der Krümmung von Raum und Zeit, in den Dimensionen von Parallelismus und selbstverschuldeter Emanation. Was ist der Mensch? Diese Frage wird hier beantwortet.
 

 

 


 

Rajifas Freitod

Ein belehrender Jugendroman

 

Rajifa (ausgesprochen Chradschiffah, hier lernt der Jugendliche frühzeitig die Aussprache fremdländischer Menschen, Vorurteile  werden abgebaut), Rajifa also, ein lesbisches Sintimädchen jüdischer Herkunft, muss mit ansehen, wie ihre gesamte Sippschaft von den Nazischergen ins KZ verschleppt, gefoltert, verstümmelt sowie anschließend ermordet wird. Sie selbst wird beiseite geschleift zum Zweck der Mehrfachvergewaltigung, aber 5 Zentimeter vor jeder anstehenden Penetration kommt ein Bombenalarm dazwischen, und die Naziknechte flüchten in den Luftschutzkeller (Für die jungen Leser habe ich die Information eingefügt, dass die Geschichte um das Jahr 1943 spielt, also ca. vor 100 Jahren, und dass damals ein sog. Weltkrieg “tobte“, angezettelt von bösen Menschen, die sich Nazischweine nannten).

Rajifa (deutsch: Die Besenreine) kann dem KZ abenteuerlich entkommen und taumelt nach einer Odyssee durch rattenverseuchte Kanalisationsröhren in die Arme eines niedersächsischen Bauern, der sie in seine Rübenmiete einquartiert (der junge Leser lernt, dass das Wort Miete auch Grube bedeuten kann! Sprache wird als zwielichtig erkannt.). Hier, in der muffigen und dunklen Gruft, beginnt sie ein Tagebuch, das sie mangels Papier auf Rübenblätter schreibt, und zwar mit ihrem eigenen Blut. Doch ach, der Bauer hat sein unsittliches Auge auf das ausgeblichene Mädchen geworfen, und eines Nachts steigt er in die Grube, um ihr Gewalt anzutun. Da hat er aber nicht mit seinem 12jährigen Bub Horst-Anton gerechnet, der sich schon seit Ewigzeiten mit der rehäugigen Rajifa quasi verlobt glaubt.

Mit einem Huflattich erschlägt er seinen Vater, so wie man auf dem Felde einen wilden Ochsen niederstreckt. Davon wird er später lebenslänglich berichten.

Vor all dem Gräuel und Huflattichgemetzel flieht Rajifa ins Freie. Hier oben ist seit 4 Jahren der Krieg vorbei, wovon ihr aber der hintertriebene Bauer kein Wort mitgeteilt hat. Historisch unbelesen hält das arme Geschöpf die nunmehr von allen Seiten frenetisch bejubelte Demokratie für eine erneute Terrormasche der weißhäutigen Menschen. Sie verliert alle Hoffnung.

Inzwischen erblüht auf der Jungfrau Wangen die Pubertät mit all ihren Errungenschaften und Einzelheiten (Pickel & Pusteln; die Jugend wird da abgeholt, wo sie steht). Ein gutsituiertes Ehepaar aus Braunschweig (der Mann ist Richter am Landgericht) sieht das schwer entstellte Sinti/Roma-Mädchen (nicht „Zigeuner“, darauf wird streng hingewiesen) auf dem Domplatz traumatisieren, nimmt es bei sich auf und pflegt es wie ein eigenes Kind, welches freilich niemals in die engere Auswahl kam, denn die berufliche Anspannung des Vaters wusste es jedesmal zu vereiteln.

In dieser Art geht es munter weiter (die realistisch dargestellten Einzelheiten bitte im Original nachlesen!). Der Roman bedient sich dabei mehrerer Perspektiven und Ebenen, ein raffinierter Kunstgriff. So wird zum Beispiel die gesellschaftlich tabuisierte Präferenz Rajifas zum weiblichen Geschlecht thematisiert, und zwar aus der Sicht einer Freundin, die sich dabei selbst „entdeckt“, ein schönes und lehrreiches Kapitel zur angesagten Emanzipation und modischen Toleranz.

Zu kurz kommen auch nicht die Nöte und Ängste, die Rajifa als junge Frau modellhaft in der männerdominierten Welt erleiden muss. Ihr migrantischer Hintergrund als Auslöser für unsägliche Diskriminierungen kommt ebenfalls aufs Tablett u.v.a.m.

Rajifa dankt ihren Pflegeeltern mit der Preisgabe von Multikulti-Gepflogenheiten. So zeigt sie ihnen, wie man eine koschere Pudelmütze backt, ein Fladenbrot bügelt oder eine Sinti/Roma-Gitarre Django-Reinhardt-mäßig auf 80 Sachen beschleunigt.

Natürlich steuert diese beklemmende Entwicklung auf einen unkonditionierten Schicksalsschlag zu (Plot Point, geschickt vorbereitet), dem Tag, an dem Rajifa erfährt, dass ihr geliebter Ziehvater während der Nazizeit der bestialische Kommandeur des KZs war, in das Rajifa mit ihrer Familie verschleppt wurde, ja, dass er und nur er es war, der den Tod ihrer Sippschaft auf dem Kerbholz zu verantworten hat.

Kurzum: Rajifa sieht ihren Lebenssinn dahingerafft und aufgesogen. Der Freitod erscheint ihr als der einzige Ausweg aus dem unerfreulichen Dilemma. Vorher jedoch ordnet sie noch die Rübenblätter (ihr altes Tagebuch), denen sie sich anvertraut hatte bis zum fiesen Ende (die Rübenblätter erscheinen demnächst unter dem Titel „Rübenblut aus dem Loch der Finsternis – Ein Blog gegen das Vergessen“).

Doch dann, auf der letzten Seite des Romans, platzt ein Knalleffekt in die unverhofften Zeilen, eine überraschende Fügung des Schicksals! Darüber wird hier natürlich nichts verraten, nur soviel, dass ein noch schrecklicheres Ereignis eintritt, welches alle Mühen vergeblich macht, sogar die des Romans, des Plot Points und die der Rübenblätter sowieso.

 










Wiederum ein Exposé, diesmal zu einem Jugendroman, an dessen pädagogischem Gehalt nichts auszusetzen ist und der zu 100% den Vorstellungen der Kinder- und Jugendbuchkritiker genügt.
Das Konzept ist bereits in Quark 8 abgebildet, dort mit eingehenden Erläuterungen zur Entstehungs- sowie zur Rezeptionsgeschichte.
 

 

 


 

Das Scheiße

Konzept eines Bühnenstücks zwecks Erzielung größtmöglichen Aufsehens und damit Erfolgs.

 

Die 16jährige Ausreißerin Ritzi landet auf dem Kiez in Hamburg, nee, Berichtigung, in Berlin Kreuzberg natürlich, der angesagtesten location, darunter geht nichts. Ritzi ballert sich Shit in die Birne, geht auf Kokain über, dann Heroin. Muss anschaffen gehen, um den Stoff bezahlen zu können. Wird mehrfach vergewaltigt, traditionell von ihrem Beschützer Charlie, der sie jeden zweiten Tag auf dem Klo hinter dem U-Bahnhof zurichtet. Ritzi kifft und kotzt und scheißt und fickt und eitert nur so rum, immer im Widerstreit mit den „Bürgerlichen“, die sie im Wahn für ihre Eltern hält. Sogar ihren Mitbewohner und Hausbesetzer Manni, der auf dem Schwulenstrich anschafft, hält sie für ihre Eltern, und deshalb geht es nicht lange gut, nach ein paar Tagen scheißt und kotzt sie seine bürgerliche Scheißbude mit den Ikearegalen und der Scheiß-Discokugel voll und klaut seinen Kassettenrecorder. In der nächsten Szene sieht man sie durch den Park schwanken. Sie  schlitzt eine Scheiß-Oma, die sie für ihre Eltern hält und raubt ihr die Handtasche. Ritzi landet im Klo hinter dem U-Bahnhof, wo sie sich erstmal einen Schuss setzt. Von da an ist sie ohne Unterbrechung total echt zugedröhnt, lässt sich zu den üblichen Vergewaltigungen durch Beschützer Charlie auch noch von allen Bekannten durchficken, weil sie gar nichts mehr mitkriegt und ihr sowieso alles scheißegal ist und das Ganze für voll echt total antibürgerlich hält. Zum Schluss scheißt sie sich zu Tode, kann auch sein, dass sie sich nur vom ständigen Scheiße- und Kotze- und Fickgequatsche zu Tode gelabert hat. Schlussszene: Ihr Vater trifft ein, reißt sich die Hose vom Leib und vergewaltigt seine noch sackwarme Tochter von hinten, weil vorne vom vielen Abficken und Vergewaltigtsein alles ausgeleiert ist. Charlie, ihr Pseudofreund, Beschützer und Junkie liegt delirierend in der klebrigen Pissrinne, rafft sich ein letztes Mal auf und kotzt erst seinen Restmagen auf den permanent kopulierenden Vater, um anschließend das grunzende Nekrophilschwein durchfallmäßig vollzuscheißen, und zwar ins vor Geilheit  sabbernde Maul, worauf dieser erstickt, alles in real, ohne Requisiten, Vorhang zu.

 

 


 

 

 

 

"Das Scheiße" kann als Referenz für einen konzeptionell durchstrukturierten Aufriss eines Bestsellers gelten, sei es für  einen Roman oder für ein Bühnenstück. Die näheren Umstände der Entstehung und der Ideengeschichte für "Das Scheiße" kann in der Site Quark 22 nachgelesen werden. 

Der Inhalt könnte als jugendgefährdend, zersetzend und sowieso abstoßend angesehen werden. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit und Geduld, Texte dieser Länge auf dem Monitor aufnehmen zu können. Jugendliche Internetbenutzer dürften allerdings diese Voraussetzungen kaum mitbringen, insofern können die oben angeführten Vorbehalte als gegenstandslos abgetan werden.

Lesesaal