Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 22

 

 


 












GpD-Mitteilungsblatt, Unterbezirk Mitte

 

Die Montagskolumne für Freidenker

Arbeitshypothesen – Entgrenzungen

 

Mo. 17. 08.

Der Mond steht unter Wechselstrom

 

Mo. 24. 08.

Den Urknall gab‘s gar nicht, vorher war aber was

 

Mo. 31. 08.

Den Urknall gab’s doch, vorher gab’s aber unendlich viele Vorherknalle, und davor war auch was

 

Mo. 07. 09.

Unter den 5-Beinern gibt es auch 2-Beiner

 

Mo. 14. 09.

Der Affe stammt vom Menschen ab (insbesondere der Fadenwurm)

 

Mo. 21. 09.

Russland ist kleiner als Lichtenstein (und dümmer)

 

Mo. 28. 09.

Belgier sind auch Menschen

 

Mo. 03. 10.

Gehirnaktivitäten gibt es nicht. Das menschliche Gehirn bildet sich das nur ein.

 

Mo. 10. 10.

Der Chefredakteur dieser Zeitung ist ein behämmerter Hohlkopf

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Neben Konzeptstrecken zum Design bewohnbarer Installationen – und damit beschäftigte ich mich schon seit meinem zweiten Studienabbruch 1984 – versuchte ich mich an der Verschaufensterung sakraler Verkleidung. Was darunter zu verstehen ist, soll hier nicht Gegenstand einer ausufernden Erläuterung des weiteren Lebensabschnitts sein (stattdessen Abb. angucken,  Birne geht an).

Ging sowieso nicht auf, das Konzept. Sakralschleier im Schaufenster: Spiegelung des Weltgeistes – so die Arbeitshypothese, ein Missverständnis. Was sich da spiegelte, offenbarte sich kaum als Weltgeist, jedenfalls nicht im hegelschen Sinne, und einem anderen Sinn konnte ich der Aktion nicht zugestehen, man hat schließlich seinen Stolz, von Niveau und Ehre ganz zu schweigen. Immerhin entwickelte sich 1992 daraus die wöchige Kolumne im GpD-Mitteilungsblatt Unterbezirk Mitte, Titel: Arbeitshypothesen – Entgrenzungen  (siehe Kasten); wurde vom Chefredakteur wegen „entgrenzender Plausibilität“ abgesetzt.

Vor dieser Zeit schon hatte ich Rita kennengelernt (Gartenstr. 34, 2. Stock). Sie beflügelte meinen Plan, etwas noch Großartigeres als das Generalprojekt „Studienabbrüche & Konzeptfehler“ anzupacken. Daraus wurde aber auch nichts, denn Rita verknallte sich Hals über Kopf in einen Macker namens Karl-Heinz und zog mit ihm nach Ostfriesland, da der Macker dort Sozialpädagogik studieren wollte; dort bedeutet: in Emden. Das war weit weg. Ich saß also im Hamburg fest in Abwesenheit der Beflügelung meines Masterplans.

Übrigens wechselten die beiden nach einem „Probesemester“ (Karl-Heinz) nach Leer, wegen einer freigewordenen Stelle als Begleitgitarrist in einer Politrockband (oh Mann, was es alles gab). Hatte ich erwähnt, dass Ritas Macker leidlich Gitarre klimpern konnte?

Das war nun mittlerweile völlig am Zeitgeist vorbei. Nicht das Klimpern, sondern Politrock.

Rita jobbte derweil in Szenekneipen, um das Geld für die Miete aufzubringen. Welche Miete, fragte ich sie, als ich die beiden mal in Leer besuchte. Die hausten nämlich im Übungskeller der Politrockband (oh Gott, Politrock!), mit Matratzen auf dem Betonboden, einem Gaskocher und einer Monatskarte der Schwimmbades (wegen der Wäsche und so). Immerhin residierte in Leer das Taraxacum, die beste Buchhandlung Norddeutschlands, und die Aussicht auf einen ausgiebigen Nachmittagbesuch zu den deckenhohen Regalen mit Buchausgaben, die selbst in Hamburg kaum zu finden waren, versprach eine hinreichende Entschädigung für die deprimierende Unbill aus schimmeligen Matratzen, Kerzengeflacker, billigem Rotwein und obsoleten Politrockmanifesten.

Also welche Miete, bohrte ich gewissenlos nach.

Schließlich gestand Rita, dass sie ihre alte Wohnung Gartenstr. 34 weiterhin unterhielt.

Das ließ hoffen.

Ich unterbreitete ihr und ihrem Macker umgehend mein neuestes Projekt. „Ein Theaterstück“, hub ich an, „kühn, skandalös, provokativ und schockierend.“

„Gab’s schon“, nölte Karl-Heinz, „ich glaube, das war 1972 oder 73, sogar in Stereo.“

Schien ein Scherzkeks zu sein, dieser Macker.

„Spielt auch keine Rolle“, sagte ich, „diesmal geht es darum, richtig Kohle abzuschöpfen. Keine hohe Kunst mehr, keine Flausen mehr von wegen Weltverbesserung, sondern Mainstream in knallbunter Epik, publikumswirksam bis ins letzte Loch.“

„Aha“, grunzte Karl-Heinz, der Begleitgitarrist von Tut was, ihr Schweine, der Politrockband (Gnade, dieser Bandname! Politrock!).

„Und wozu brauchst du uns dabei?“ fragte Rita unter Vortäuschung einer rauchigen Stimmlage.

„Na als Darsteller! Normale Schauspieler packen das nicht. Weil die Handlung zu extrem ist. Zu abgefahren. Da fließt Blut, Sperma, Kotze, Pisse, Eiter. Hört euch erstmal den Stoff an, dann gibt es kein Halten mehr und euren Politrock könnt ihr euch an die Kimme klatschen.“

Und ich skizzierte ihnen in groben Zügen den Inhalt meines Bühnenstücks. Ist natürlich voll jugendgefährdend, und deshalb darf der folgende Absatz von Jugendlichen unter 18 Jahren nur mit Genehmigung und im Beisein ihrer Eltern gelesen werden. Die Handlung also ging so:

 

Die 16jährige Ausreißerin Ritzi landet auf dem Kiez in Hamburg, nee, Berichtigung, in Berlin Kreuzberg natürlich, der angesagtesten location, darunter geht nichts. Ritzi ballert sich Shit in die Birne, geht auf Kokain über, dann Heroin. Muss anschaffen gehen, um den Stoff bezahlen zu können. Wird mehrfach vergewaltigt, traditionell von ihren Beschützer Charlie, der sie jeden zweiten Tag auf dem Klo hinter dem U-Bahnhof zurichtet. Ritzi kifft und kotzt und scheißt und fickt und eitert nur so rum, immer im Widerstreit mit den „Bürgerlichen“, die sie im Wahn für ihre Eltern hält. Sogar ihren Mitbewohner und Hausbesetzer Manni, der auf dem Schwulenstrich anschafft, hält sie für ihre Eltern, und deshalb geht es nicht lange gut, nach ein paar Tagen scheißt und kotzt sie seine bürgerliche Scheißbude mit den Ikearegalen und der Scheiß-Discokugel voll und klaut seinen Kassettenrecorder. In der nächsten Szene sieht man sie durch den Park schwanken. Sie  schlitzt eine Scheiß-Oma, die sie für ihre Eltern hält und raubt ihr die Handtasche. Ritzi landet im Klo hinter dem U-Bahnhof, wo sie sich erstmal einen Schuss setzt. Von da an ist sie ohne Unterbrechung total echt zugedröhnt, lässt sich zu den üblichen Vergewaltigungen durch Beschützer Charlie auch noch von allen Bekannten durchficken, weil sie gar nichts mehr mitkriegt und ihr sowieso alles scheißegal ist und das Ganze für voll echt total antibürgerlich hält. Zum Schluss scheißt sie sich zu Tode, kann auch sein, dass sie sich nur vom ständigen Scheiße- und Kotze- und Fickgequatsche zu Tode gelabert hat. Schlussszene: Ihr Vater trifft ein, reißt sich die Hose vom Leib und vergewaltigt seine noch sackwarme Tochter von hinten, weil vorne vom vielen Abficken und Vergewaltigtsein alles ausgeleiert ist. Charlie, ihr Pseudofreund, Beschützer und Junkie liegt delirierend in der klebrigen Pissrinne, rafft sich ein letztes Mal auf und kotzt erst seinen Restmagen auf den permanent kopulierenden Vater, um anschließend das grunzende Nekrophilschwein durchfallmäßig vollzuscheißen, und zwar ins vor Geilheit  sabbernde Maul, worauf dieser erstickt, alles in real, ohne Requisiten, Vorhang zu.

 

„Was haltet ihr davon?“ fragte ich triumphierend, „Rita gibt die Ritzi und Karl-Heinz kann meinetwegen die Rolle des Zuhälters kriegen.“

Kurze Pause. Wir wählten unsere Argumente, bzw. ich eine Flasche Bier.

„Ich könnte mir vorstellen“, flötete Rita nach einer Weile in gezierter Diktion, „das mein Naturell für die mir dargebotene Hauptrolle zu zartgliedrig gesponnen ist und mir die Absenz der Feingeistigkeit in dem Bühnenstück einen Sorgenschimmer auf das seit meiner Geburt an schwächelnde Gemüt bürstet.“

„Gut gesprochen meine Liebe“, antwortete ich ein wenig onkelhaft, „doch welche süßholzraspelnde Absicht steckt hinter deiner geriffelten Lebensbeichte?“

„Hierüber eine Auskunft abzusenden verstößt gegen die meine schon je und immer bestehende Moralbarriere“.

Mannomann! Manchmal konnte mir Ritas vergurktes Ausdrucksgelumpe ganz schön auf die Grube gehen. Mit Grube meine ich Magengrube.

„Mal was anderes“, meldete sich Karl-Heinz jetzt und ohne Scheu vor spartanischer Begriffsbildung, „du glaubst also, dadurch, dass du die niedrigsten Instinkte eines noch niedrigeren Publikums bedienst wird das Machwerk ein großer Erfolg?“

„Ja, das glaube ich“, rief ich glühend, „alle bisherigen Erfahrungen sprechen dafür.“

„Und du glaubst, dass die Kritiker voll des Lobes sein werden?“

„Aber gewiss! Gerade die Kritiker fahren voll auf juvenile Perversitäten ab. Es muss nur authentisch genug daherkommen.“

„Gut also“, holte Karl-Heinz zum Finalschlag aus, „dann ist dir aber klar, dass du dich zum Zwecke des Erfolgs prostituierst, dich genauso verhältst wie der Stricher in deinem Stück?“

Was sollte das denn? Hatten die Politrocker ihm die Birne mit Ethikvorlesungen zugematscht?

„Demnach“, dozierte ich mit der Niedertrachten List, „sind alle Autoren, die den Wunsch des Publikums nach Spannung, Kolorit und Vergnüglichkeit sowohl nachgehen als auch nachgeben allesamt nichts weiter als Stricher und Prostituierte des Kunstgewerbes, ist es so?“

„So ist es“, bestätigte der Macker.

„Wie ist es mit den Komponisten, die mit handwerklichem Geschick ihre Werke tongestalterisch in Form und Struktur bringen, mit rauschenden Skalen, vorbereiteten Höhepunkten und einem gefälligen Schlussakkord, die auch?“

„Auch die Komponisten.“

„Nun die Romanautoren: Sind sie Nutten bzw. Lustknaben des Reglements für Gliederung, Aufbau und Spannungsverlauf, die dem Zwecke der Harmonie und der Erbauung des Lesers dient, nicht aber dessen Überforderung?“

„Die Romanautoren insbesondere.“

„Dann nenne mir nur einen Künstler“, zischte ich natterngleich, „der der Zuhälterei Paroli bietet oder geboten hat. Den möchte ich sehen!“

„Pah“, stieß Karl-Heinz hervor, „diesen einen Namen nenne ich, und er lautet van Gogh.“

Verfluchter Hund! Mit meinem Bühnenstück würde es nichts werden, denn mit Rita und ihrem Macker war nicht mehr zu rechnen.

Auf dem Heimweg beschloss ich, das Bühnenstück umzuschreiben und es als Roman herausgeben. Die Biographie der Hölle, in der Ich-Person geschrieben. Dazu musste ich nur meinen Vornamen in Johanna ändern und noch ein paar Recherchen in den angesagten Szenelokalen anstellen wegen des gerade gängigen Jugend- und Drogenjargons. Damit der Fake nicht auffiel.

Dazu kam es nicht mehr. Ich hatte zwar schon die ersten zwei Kapitel niedergeschrieben, bin dann aber aus Geldnot im Schuldienst gelandet. Millioneneinnahmen aus hundertausend verkaufter Bücher gingen an andere Autoren, die keine Skrupel kannten, mit Sex, Scheiße und Kotze das ganz große Ding durchzuziehen. Immerhin: Ehre und Stolz sind mir geblieben. Den Callboys und Belletristik-Nutten unter den Autoren, und das sind nach der Theorie von Karl-Heinz so gut wie alle, denen zeige ich den Stinkefinger.

 
 





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