Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 43

 


 

Die Idee zur Aktion Verdeckte Ermittlung kam von Jockel Meier. Genaugenommen kam  sie von Hermann 'Quintus' Grotelüschen, dem designierten Bassgitarristen der noch nicht voll aufgestellten Beatband, die die Kleinstadt zum "Ruhmesblatt in der Geschichte der Klangmetastasen auf dem Düngerhaufen aller derer begründen wird, die ungerechtfertigterweise das heraldisch vereichelte Ritterkreuz der Ehrenlegion ans schüttere Rock'n Roll-Brüstlein sich klatschen". Zitat Ende, Rita natürlich mit ihrem Sprechgewurste, dabei zusätzlich Adornos eitle Formulierungsmacke persiflierend.

 

Gut, dass Jerrys Onkel Bastian, der knarzige Zweite-Weltkrieg-Haudegen mit dem Piratenhaken am Armstumpf, den Spruch nicht zu Hören bekam. Der hätte der Göre ordentlich was über den Scheitel gezwitschert von wegen Ehrenlegion und Ritterkreuz. So aber kam Rita noch einmal davon, und Hermann mit der Bassgitarre, Spitzname Quintus wegen seiner Kenntnisse des Quintenzirkels, gab den entscheidenden Anstoß zu der weiteren Entwicklung. Als Auslöser seines Anstoßes wiederum – und damit als Ei vor dem Huhn vor dem Ei – muss jedoch die ERSCHEINUNG angesehen werden. Die ERSCHEINUNG war keine Marienepiphanie oder ein brennender Busch vor dem Käseladen von Almut Süsens, sondern ein obskurer Typ, der eine Zeitlang durch den Ort geisterte. Eingehüllt war er zu ca. 95 % mit einem abgewetzten Kleppermantel aus Nachkriegsbeständen: matt glänzend in Deprigrau, hinten am Kragen die berüchtigten Dünstungsaustritts- und Lüftungsöffnungen, Schläuche der Finsternis und des Schreckens. Die restliche 5%-Körpermasse lugte oben aus der Stola des Grauens und ängstigte vorbeihuschende Hausfrauen durch eine überdimensionale Sonnenbrille mit stark gewölbten Gläsern, die wie die Facettenaugen eines missgünstigen Insekts das blanke Verderben widerspiegelten. Wer den Mut hatte, in die Gläser zu schauen, erblickte sein Spiegelbild, verzerrt, aufgedunsen, lächerlich disproportioniert – eine Alternative, auf die man besser verzichtete. Den Abschluss der Maskerade bildete eine Baskenmütze, wiewohl dieses Erkennungszeichen eines humanistisch vergeigten Studienrates nicht so richtig zum übrigen Outfit passen wollte.












                 

 

                                               


                                                            
Ein seltsamer Aufzug, der die Blicke der Passanten auf sich lenkte. Das ausschlaggebende Utensil aber gab sich eher unauffällig. Es hing dem Individuum vor der Brust, ein fleckiges Lederetui, dessen Aufdruck kund gab, dass hier die Fotokamera Retina aus dem Hause Kodak zuhause war. Das Etui war stets verschlossen, die inneliegende Kamera also nur zu vermuten, und niemand konnte sich daran erinnern, dass die schaurige Figur die Retina oder ein anderes Fabrikat aus dem Etui herausgenommen hätte. Das schon mal vorweg.

 

Jerry, Diedel und Rita hatten soeben die übliche Runde durch die beiden Einkaufsstraßen beendet, einmal die Bismarckstraße rauf, dann die parallele Kirchstraße zurück. Gesprächsstoff war die künftige Zusammensetzung der Beatband, die sie gründen wollten. "Erstmal brauchen wir einen irren Bandnamen, ein schlaffer Bandname bringt es nicht" ereiferte sich Diedel, als plötzlich der Kleppermantel aus einer Hauseinfahrt trat und auf sie zusteuerte.           

 

"Ich bin der Fotograf", sagte Jockel Meier.

 

Jockel Meier? Niemand anderes als Jockel Meier krächzte in dieser Tonart. Unter der gummierten Klepperplane steckte tatsächlich der von den Beklopptesten der Kleinstadt hoch geachtete Existenzialist, Dauermastubateur und de Sade-Leser Jockel Meier.

"Potzdonnerwetter, würde Onkel Basti fluchen", raunzte Jerry zum Jockel, dem Meier mit der Retina, "der hätte mit dir Bürschel liebend gern ein paar akademische Brötchen gebacken." Jockel Meier, der sogenannte Fotograf, verzog keine Miene und unterlegte seine nonverbal angezeigte Indolenz mit einer eher rhetorischen Frage: "Akademische Brötchen?"

Jerry konterte mit der ebenfalls rhetorischen Gegenfrage, ob ihm pandämonische Mettwürste lieber wären. Nun fiel auch Rita ein in den Chor der Rhetoriker: "Saumselige Laugenbrezeln täten es auch." Das Tremolo in ihrer Stimme verlieh der Aussage eine aparte Schwingung, allerdings wurde es kaum durch künstlerische Gestaltung hervorgerufen. Denn trotz des eisigen Herbstwindes präsentierte sich Rita im kürzesten und engsten Minirock aller Zeiten. Ihre Eltern hatten schon längst die moralischen Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet und hofften nur noch, das lose Luder würde sich wenigstens vom Roten Hahn fernhalten, dem einzigen Lokal am Ort mit sogenannten Hinterzimmern, und das sagte ja wohl alles.

 

        

             

             




                                  




   

Nachdem das Geheimnis des Kleppermantelgeistes gelüftet und der Fundus an rhetorischen Fragekonstruktionen ausgeschöpft war, gelangten die Vier an des Weges Ziel: der Radioladen Bokelmann, vor dem sie stundenlang herumzulungern nicht müde wurden. Bokelmann Senior rückte gerade ein Sonorschlagzeug neben die übrige Auslage, deren Hauptattraktion, eine Fernsehtruhe, im Zentrum des Schaukastens prunkte; der Trumm aus der Manufaktur Nord Mende segelte unter dem Titel Kommodore, war mit Düsterholzimitat furniert und hatte einen aufklappbaren Deckel für den Zugriff zum Schallplattenspieler. Neben dem Monstrum stand eine Fußbank, auf die ein Spulentonbandgerät vom Typ Grundig TK 35 aufgebockt war. Dahinter der eigentliche Grund für die Vier, sich vor dem Laden aufzuhalten: eine gebrauchte Gitarre mit angebacktem Tonabnehmer, dem Vernehmen nach (O-Ton Diedel) eine Höfner. Jerry bestand darauf, es handele sich um eine Framusgitarre, deren Firmenschild abgefallen sei. Ein ständiges Streitthema. Vorn am Fensterrand präsentierten sich die aktuellen Singles aus der Hitparade, penibel aufgereiht nach den Nominierungen 1 bis 15. Auf Nummer Eins residierte  Heintje mit "Heidschi Bumbeidschi".

Ein Drumset von Sonor also! Seinetwegen hatte das Tenorsaxophon weichen müssen, mit Sicherheit verkauft, denn Bokelmann ließ seine Instrumente generell solange im Schaufenster liegen, bis sich ein Käufer fand. Der samtige Schimmelbelag, der das Mundstück der Melodica dort in der hinteren Ecke überzog, legte Zeugnis ab von der Schwierigkeit, eine Melodica in Zeiten von Bontempi-Orgeln an den Mann zu bringen.

"Ich wusste gar nicht, dass es hier in der Gegend Jazzmucker gibt," wunderte sich Diedel. Wer ein Tenorsax erstand, musste zwangsläufig ein Jazzer sein, was anderes kam nicht in Frage. "Heh," überlegte Jerry, und wenn er anfing, eine Überlegung mit Heh zu starten, quollen mit Sicherheit Widerworte über seine Lippen. "Heh nochmal, vielleicht ist das gar kein Swingheini, sondern ein Rock'n Roller. Ich sage nur Johnny and the Hurricanes mit Rocking Goose und Buckeye und Red River Rock und ..."

"Oder ein Tanzmucker, wer kann sich sonst schon ein neues Tenor leisten." Rita hatte die Aufzählung unterbrochen und dabei einen klaren einfachen Satz herausgebracht, sogar dazu war sie fähig, Mannomann. "Mannomann," akklamierten Jerry, Diedel und der Fotograf gleichzeitig.

 

 

 

Inzwischen hatte die Kirchturmuhr vier geschlagen. Es wurde Zeit, dass Hermann Grotelüschen auftauchte. Hermann, genannt Quintus, näherte sich auch pünktlich von der anderen Straßenseite, wurde aber beinahe von einem Mopedfahrer überfahren. Denn Quintus stapfte, ohne nach rechts oder links zu gucken, wie traumatisiert über das Pflaster. Sein Blickwinkel hatte sich auf ein winziges Objekt vor Radio Bokelmann verengt, das in ihm – und sein hochroter Schädel ließ keine andere Deutung zu – ein Feuersturm pubertärer Begierde entfachte: Ritas Slip, der unter dem hochgerutschten Minirock Zentimeter für Zentimeter zum Vorschein kam. Kurioserweise ein Slip, wie ihn Kinder trugen: in Rosa mit bunten Bärchen bedruckt. Vermutlich hatte Rita keinen spärlicheren Slip finden können, der sich so knalleng an ihr Gesäß anpasste. Die Existenz von Stringtangas war ja noch vollkommen unbekannt, und überhaupt ging allein schon der Gedanke daran über die lüsternste Vorstellungskraft hinaus, ganz zu schweigen von der damit verbundenen Zurschaustellung von anzüglichen Tattoos auf freigelegten Arschbacken.         


                                   
 
                     
       
        

 

Quintus sabberte. Er war sowieso noch etwas benommen. Eben hatte er einem zwölfjährigen Opfer Nachhilfe in Musik gegeben, was bedeutete, dass der arme Bub den Quintenzirkel rauf- und runterleiern musste, bis ihm die Ohren pfiffen vor lauter Quinterei. Schließlich wurde diese Kunstfertigkeit im gymnasialen Musikunterricht gefordert. Es war vorgekommen, dass die besten Auswendiglerner des Quintenzirkels sich wegen ihrer guten Note in Musik für musikalisch hielten und ein Musikstudium aufnahmen. Ein Desaster, aber die meisten kriegten dann doch noch die Kurve und schrieben sich nach einem Semester in das Fach Betriebswirtschaft um.

 

Hermann stolperte über die Bordkante, wurde von Diedel aufgefangen und kam wieder zu sich. Jetzt erst bemerkte er den Kleppermantelmenschen. "Was will der denn hier?"

 

"Ich bin der Fotograf," sagte Jockel Meier.

 

"Und ich bin der Schah von Persien," blaffte Quintus zurück, ohne sich über die Folgen seiner Anmaßung Gedanken zu machen. Er glotzte auf Ritas Hintern und fing wieder an zu sabbern.

"Noch nie was vom Fotografen gehört?" fragte Jerry.

"Fotograf, Fotograf. Ich höre immer nur Fotograf. Wo ist eigentlich Jockel Meier hin, ich hab doch gerade noch seine Stimme gehört?"

 

Rita drehte sich ihm zu. "Diesem Pfuhl der Wirrnis aus Unlauterkeit und zügelloser Exorbitanz wird mit der Verhüllung geschlechtsspezifischer Unbeschreiblichkeiten hiermit ein Ende zubereitet."

Also sprach Rita. Sie griff an ihren Rocksaum und zog ihn auf den Höhenpegel der Slipunterkante, wobei nunmehr ein Teil ihres Bauches frei wurde, was auch nicht gerade zur Verbesserung der Wirrnis in des Quintus Hirn und Herz beitrug.

 

"Ich bin der Fotograf," sagte Jockel Meier.

 

"Langsam werde ich bekloppt," schrie der Bekloppteste von allen, und das war Jerry, dem dämmerte, dass der Kleppermann ihm den Rang streitig machen würde, wenn er weiterhin den Fotografen abgab.

Quintus glotzte immer noch, diesmal aber stumpf auf die Insektensonnenbrille. "Du bist Jockel Meier," sagte er.

"Mein Gott," stöhnte Diedel, "ihr habt doch alle einen Stich in der Birne."

Quintus, der Bassist und Nachhilfediktator, hatte aufgehört zu sabbern. "Nunmehr," sprach er in weihevollem Duktus, "nunmehr spreche ich die folgenden Worte."

"Oh nein!" rief Jerry, "Rita, sag du doch mal was, aber nicht so lang bitteschön."

 

"Lasset dem Herrn sein Hirn klingeln, auf dass Würze und Katzenstreu die Herzen der Gewöhnlichen heimsuchen in Ewigkeit und unerforschlicher Grütze." Rita hatte in melodiefreiem Rhythmus präludiert, ohne Fehl und Komma. Doch Quintus ließ sich nicht erschüttern. "Also spreche ich," sprach er, "die Verdeckte Ermittlung wird hiermit aufgenommen. Kleppermäntel müssen her. Sonnenbrillen und weiche Sohlen. Der Bürger wird ausgehorcht."

 

Diedel tippte sich an den Kopf und verlies die Runde. Betrübt schaute Jerry ihm nach. Die Verdeckte Ermittlung war schon in ihrer Konstitutionsphase gescheitert. "Ich glaube fast," sagte er, "dass Diedel gar nicht so bekloppt ist. Ein Jammer."

 

Schweigend starrten sie auf das Schlagzeug im Schaufenster von Radio Bokelmann. 

 

          

       

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