Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 35

 


 

J

erry hatte schon lange nichts mehr geschrieben. Die Musikausübung mit all ihren Ausläufern und Zwängen hatte ihn zu sehr in Anspruch genommen. Die Ausläufer aufzuzählen wäre müßig, wenn nicht das öffentliche Interesse dagegen spräche. Das öffentliche Interesse ist in diesem Fall eine der Moral verpflichtete Instanz: Kann der rechtschaffene Bürger dem Hallodri, der sich Musiker nennt und den ganzen Tag herumgammelt, auf der Gitarre klimpert, Rotwein säuft und seine ungepflegte Leibeshülle den Kindern zum Anblick darbietet, kann und darf man ihm diese Art Lebensführung zugestehen oder muss nicht vielmehr die Volksgemeinschaft aufbrausen und mit steilwandiger Empörung darauf verweisen, wie schmarotzerhaft sich bestimmte Individuen am Bruttosozialprodukt vergehen?

 

H

ier nun sollen einige musikalisch ins Unermessliche ausufernde Tätigkeiten aufgelistet werden, um dem Eisberg des völkischen Unwillens die Spitze abzuschlagen. Die Liste ist nicht vollständig, aber sie dürfte ein Bild davon vermitteln, wie sehr Musik dem (demjenigen, genau gesagt) Menschen, der beruflich damit (mit der Musik) angefasst ist, die Zeit stehlen kann und ihn in Vegetationszustände versetzt, die kaum Zugang zu den wesentlichen Dingen des menschlichen Dort und Jetzt gewähren; es kann sich hierbei nur um einen – wie stets belachten – Versuch handeln, den sog. Musiker zu rehabilitieren vor Verleumdung und missgünstiger Unterstellung.

Zum einen:

 

Üben. Jeden Tag muss geübt werden. Täglich stundenlang üben. Bis die Fingerkuppen brennen. Bis der Rücken schmerzt. Bis Tollheit und Wahn übergreifen. Seit Kindheit an: üben, üben, üben. Tonleitern, Arpeggien, Läufe, Sonaten, Menuette, Suiten… das ganze Repertoire der Klassik plus Popstudien, Jazzskalen, Rock-Licks, Liedbegleitungsmuster, Flamencotechniken, Geläufigkeitstorturen, Interpretationsversionen, Anschlagsfinessen und dergleichen mehr und mehr und mehr. Sisyphos sollte ja ursprünglich zum Musikstudium verurteilt werden, wurde dann aber zum Steineschleppen begnadigt, der Glückspilz (haha).

 

Wo ist Walter vor dem Edekaladen?

 

E

igentlich reichen diese Angaben schon, denn jeder vernünftige Mensch wendet sich mit Grausen & Gram vor soviel vertaner Zeit und fleht um Abbitte wegen seiner fiesen Verdächtigungen, die dem ohnehin gebeutelten Musikus zusätzlich das Leben zur Hölle machen.

Zum anderen:

 

Broterwerb. Den kargen Lebensunterhalt verdingen mit dem Unterrichten desinteressierter Gesellen, die im besten Fall vom Tuten und Blasen träumen, eher aber vom geckigen Posieren in einer Fernsehshow mit rotlackierter E-Gitarre, in gleißender Lightshow und vor kreischenden Unwüchsigen. Stattdessen hockt in der Mönchszelle der Musikschule ein altmodisch bebrillter Gitarrenlehrer in zerknitterter Billigkleidung, der sich ein ums andere Mal ärgert über das seit Monaten rücksichtslos hingekratzte falsche Fis – aber das ist ja nur der matte Schatten, der von der Dreieinigkeit Unverstand, Bockigkeit und Grobschlächtigkeit auf den Notenständer geworfen wird.

Nach getaner Zerrüttungsfron abends dann der Griff zur Rotweinflasche. Ein Gnadenakt.

 

Zum letzten:

Zum letzten wäre noch so allerlei aus der Folterkiste des Musikantentums zu bergen. Wird hier aber verschwiegen. Mal ist genug.

 

 

Hat jemand Walter vor dem Edekaladen gesehen?

 

 

J

erry erwischte es in den Sommerferien des Jahres 2009 (zum Gedenken: Lehrer sind faule Säcke und haben das ganze Jahr über Ferien, die sie im Wohnwagen absitzen). Nicht wieder jeden Tag fünf Stunden üben, stöhnte er in sich hinein, diesmal wird Urlaub gemacht, so wie es der Sozialzwang und die Tarifordnung des öffentlichen Dienstes einfordern.  

D

ie Urlaubsplanung nahm einen Verlauf, der ihn dann doch wieder zur Maloche führte. Genau genommen zur Wiederaufnahme seiner verschollenen Schreibtätigkeit. Freilich sollte es diesmal keine Zeitungskolumne werden wie vormals seine von den bürgerlichen Dampfdenkern angegeiferte Satirereihe in einem Lokalblättchen. Nein, einen veritablen Kriminalroman würde er in seinen neuen gebrauchten Laptop hacken und dafür dicke Tantiemen von den Verlagen einstreichen.

G

leich der erste Versuch brachte die Wende. Die Wende zu einer grandiosen Idee. Mal sehen, ob dem Leser die gleiche Idee sprunghaft zuleuchtet, wenn er Jerrys ersten Versuch gelesen hat. Hier ist er:

 

 

Eine schöne Bescherung

Die Tote liegt auf dem Bauch. Ein Rinnsal aus Blut kriecht unter ihr hervor und versickert zwischen den Ritzen der Bodendielen. Draußen, vor dem Bootshaus, fliegt eine Möwe auf, kreischend.

Es kann noch lange dauern, bis jemand seinen Fuß auf die Insel setzt. Vielleicht ein neugieriger Segler, der hier ein paar zurückgelassene Gerätschaften vermutet: Tauwerk, Farbkanister, eine Messinglampe oder sogar Silberbesteck. Vielleicht legt auch ein Liebespaar an, im gemieteten Motorboot. Die beiden klettern über das morsche Verandageländer, rütteln an der verquollenen Tür, plieren durch die schmutzigen, salzblinden Scheiben in der Hoffnung, dass die Hütte leer ist und in Beschlag genommen werden kann für heimliche Schäferstündchen.

Gleich werden sie durch die Hintertür eintreten.

Eine schöne Bescherung wartet auf sie.

Und der Mörder ist nahe, beobachtet das Pärchen.   

 

 

Und? Schon drauf gekommen?

Ach, das sei nur ein Anfang? Was mit den fehlenden 350 Seiten sei (mindestens)?

Tja, genau das ist ja der Witz an der Sache.

 

 

Ist Walter vor dem Edekaladen krank?

 

K

riminalromane müssen spannend sein, überlegte Jerry (wenig originell). Also verschiebt der Autor, weil er die gängigen Creative-Writer-Tricks beherzigt, die Auflösung des Kriminalfalles an das Ende des Romans, zögert die letzte, alles erklärende Antwort hinaus. Peu à peu. Die Spannung steigt und der Leser spürt einen anschwellenden Druck: Wer zum Teufel ist denn nun der Mörder? Legt er bereits Hand an sein nächstes Opfer? Aber noch ist die letzte Seite nicht aufgeblättert, und der Leser schmort weiter in kribbeliger Ungewissheit.

S

pannungserzeugung eben durch „suspense“ (gern darf der Leser missmutig auf die pappige Tautologie hinweisen). Doch so machen es alle. Das mit der suspense. So geht’s halt. Logisch. Logisch wäre dann auch, dass der Autor, um die Spannung noch weiter zu steigern, weitere 350 Seiten Auflösungsverzögerung hinzufügen müsste. Konsequent zu Ende gedacht hieße das: Den befreienden Schluss müsste er, um eine geradezu unerträgliche Spannung zu erzeugen, auf ewig hinausschieben!

Ewig aber geht nicht.

K

urz und knapp dagegen geht. Kurz und ohne Auflösung. Dann nämlich würde die Auflösung „hängen“ (aha, die Cliffhanger-Situation, gelernt ist gelernt). Und mit diesem Trick wäre die vorgedachte Ewigkeit und somit Totalspannung hergestellt. Wie bei Jerrys erstem Krimiversuch, bei dem die Auflösung fehlt und der ganze Spannungsgestaltungs-Rotz in der Warteschleife schmort.

Eine geniale Schlussfolgerung, lobte Jerry sich selbst. Im Übrigen kann sich der Leser die Fortsetzung und Auflösung des Falles ja selber zusammenreimen.

 

Wann kommt Walter vor dem Edekaladen?

 

 

Als Identifikationsfigur und unerlässlichen Superheld fügte Jerry bei seinen folgenden Krimis einen Hauptkommissar hinzu, der, das darf schon mal verraten werden, die Fälle beinahe (!!) löst, dem Leser das Vergnügen des Kombinierens aber nicht abnimmt.

 

Ratzfatz waren ein Dutzend oder sogar mehr Kriminalromane geschrieben. Jerry schickte die Manuskripte an mehrere Verlage mit der unmissverständlichen Aufforderung, die Tantiemen auf ein Nummernkonto in Lichtenstein zu überweisen, da er bei der Höhe der zu erwarteten Einnahmen auch mal an seine Steuer denken müsse. Außerdem kündigte er seine Anstellung bei der Musikschule, bestellte einen Porsche und kaufte auf Pump eine Rolex für Repräsentationszwecke anlässlich der Lesungen und Ehrungen, die ihm bevorstanden.

 

Ein halbes Jahr danach nahm Jerry seinen Job als Musiklehrer wieder auf. Geniale Ideen, das verriet er seinem Freund Diedel, benötigen halt einen adäquaten Nährboden. Sie verkümmern, wenn in den Verlagen und Unternehmen das banausische Mittelmaß mit seinen schwieligen Arschbacken jedwede außergewöhnliche Idee in den eigenen Kot walzt. 

 

Diedel nickte weise und köpfte eine Flasche Jever Pils.

 

Zuhause hat Jerry dann einige seiner Kriminalromane ins Internet geladen. Aus Trotz. Hat die Seite „Schande“ genannt. Schande, weil die Verlage mit den Autoren Schändung betreiben. Die Seite hätte also eigentlich Schändung heißen müssen. Für diese Art von Anbiederung an den Zeitgeist war sich Jerry zu schade.

Deshalb: SCHANDE

 

Der Link zu Jerrys Krimiseite wird hiermit preisgegeben:

 

Schande

  

 

 

Gesichter eines Lebens

         

 Jerry McTeshy                                    Jerry McTeshy                                    Jerry McTeshy                                   Jerry McTeshy

 

 

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