Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 36

 


 

 

Erst bei der Beerdigung erfuhren die Beklopptesten der Kleinstadt, was Jockel Meier später so getrieben hatte. Zumindest die Episoden, die Jungpfarrer Schmolke aus den offenbar geschönten Erzählungen herausgefiltert hatte. Ausgerechnet die katholische Kirche hatte die Organisation des Begräbnisses übernommen, eine Entscheidung der arg gebrestigen Eltern des Verstorbenen, die sich dieser Aufgabe und sowieso von allem überfordert fühlten. Die Verbindung zu ihrem einzigen Sohn Jockel hatten sie schon vor langer Zeit gekappt. Und in dessen Gedankenwelt hatten sie sich ohnehin nie hineinversetzen können.

Genau genommen war ihnen das alles ein Gräuel gewesen: seine abfälligen Sprüche über den Klerus, sein undurchsichtiger Existentialismus, seine abgebrochene Lehre, seine abstruse Auswahl an Lesestoff (Genet, de Sade, Kafka,  nicht einmal der Readers Digest war dabei oder wenigstens Böll), sein Herumgammeln auf dem Sofa zur Musik von Leonhard Cohen, seine heimlichen – unheimlichen – Aktivitäten, die er mal Kunstaktionen nannte, mal auch einfach Dada. Einmal hatten sie hinter seinem Sofa nicht nur einen Haufen zerknüllter und verdächtig verklebter Tempos hervorgekehrt, sondern außerdem ein paar Pornohefte, die ihre ärgsten Befürchtungen übertrafen. „Sodomma und Gomorr“ hatten sie gegeifert und Jockel aus der Wohnung geworfen. Bei den anderen konnte er auch immer nur eine Nacht bleiben, dann hatten deren Eltern die Sache spitzgekriegt und ihnen den Umgang mit dem Perversling untersagt. Der sei vom anderen Ufer, der würde sie mit seiner kranken Art infizieren, uns verderben, sowas hätte man bei Adolf nicht frei herumlaufen lassen.  

Und nun ausgerechnet ein kirchliches Begräbnis.

Jockel würde sich im Grabe umdrehen, murrte Diedel für alle hörbar. Rita, fast noch attraktiver als zu Schulzeiten, stieß ihn in die Seite, und das gefiel Diedels Frau überhaupt nicht. Sie zischte ihn an, Diedel duckte sich unbehaglich, saß in der Frauenfalle: links seine zischende Frau Constanze, rechts Rita, daneben deren stummer Mann. Frau – Mann – Frau – Mann: wie abgezählt, du liebst mich, du liebst mich nicht, du liebst mich...

Rita hatte ihren damaligen Macker Karl-Heinz geehelicht und war dabei geblieben, eine für die Ära der Nach-68er und wechselnden Lebensabschnittpartner unverhohlen provokante bürgerlich-konservative Entscheidung, anders kann man es nicht bezeichnen. Dachte Jerry und schielte sie von seinem Eckplatz aus an, während Jungpfarrer Schmolke lustlos ein paar positive Charakterzüge des Verstorbenen zusammenphantasierte. Er las vom Blatt. Jockel Meier sei beseelt gewesen von der Idee des Zueinander, von der Vorstellung einer geistig durchtränkten Humanitas im schützenden Mantel einer sicherlich sehr persönlich interpretierten Religiosität.

Alles Humbug. Verquastes Wortgeklingel. Dass Jockel seinerzeit seinen Vorvorgänger, den armen Pfarrer Borowski mit ketzerischen Anwürfen und schweinischen Verdächtigungen aus dem Gleis der Gnade und des Glauben getrieben hatte geradewegs hinein in den hütenden Hort der geistigen Verarmung: Das hatte dem Trauerredner niemand verraten.    

Jerry schielte noch immer Rita an, seine Jugendfreundin, die es damals fertiggebracht hatte, alle im Kreis der Beklopptesten mit ihren verschrobenen Satzkonstruktionen und konsequent abwegigen Argumenten verbal aufs Kreuz zu legen. Drummer hatte sie werden wollen in der Schülerband, zusammen mit den Gründungsmitgliedern Jerry, Diedel, „Quintenzirkel“ Hermann, Jockel als Außenseiter und designierter Sänger und noch zwei Figuren, die nach der ersten Probe das Weite gesucht hatten, vermutlich wegen der Sprüche der Bekloppten, wobei Rita mit den allerdämlichsten aufgewartet hatte. Außerdem hatte sie ihren Rock ausgezogen und sich mit den hottesten Hotpants präsentiert; die waren gerade angesagt, so eine Art Höschen, wo sich sämtliche Genitalerhebungen reliefartig durchdrückten und bei deren Anblick die Schulbubis Herzstillstand, Atemnot und ihren ersten unbeabsichtigten Orgasmus bekamen.

Rita hatte was von Sex, Drogen und Rock’n Roll gefaselt und dass die Show mit einem „eyecatcher“ durch das Spalier der Verblüfften krachen müsse als Zweitkomponente des medialen statements zu den ansonsten vertikal-geblümten Harmoniequinten oder wie diese Zirkel hießen. Schon wieder so ein monströser Wörterklumpatsch, und keiner wusste was damit anzufangen. Ohnehin glotzten die Sex-, Drogen- und Rock’n Roll-Eleven sinnenlos auf Ritas Genitalerhebungen, sowas hatte noch keiner gesehen, das wölbte sich rund und prall, und Diedel bekam als Erster einen Feuchten.

Was aber keiner der anderen bemerkt hatte, die hatten nur Augen für Ritas klar herausmoduliertes Genitalrelief. Deshalb entging ihnen auch der Blick, den Rita Diedel zuwarf. Diesen ironischen, etwas erstaunten Blick, der nur eine Deutung zuließ: Sie hatte alles mitgekriegt, die Explosion in Diedels enger Jeans und sein Versuch, den sich bildenden Fleck auf der Hose mit der Gitarre zu verdecken.

Jerry hatte die ganzen Jahre nichts davon geahnt, bis jetzt, nach der Beerdigung, beim Leichenschmaus im Café Vollmann. Diedel hatte ihn der Toilette angesprochen und ihm schließlich die ganze Sauerei gebeichtet. Die hatte nämlich noch einen zweiten Teil, so eine Art Fortsetzung mit Klimax, hier in der Friedhofskirche.

Rita hatte also moschusdünstend zwischen Diedel und ihrem Macker Karl-Heinz geklemmt, während Jungpfarrer Schmolke Worte des Balsams und der gnadenvollen Vernebelung aus seinem Standardrepertoire klaubte. Irgendwie war Diedels Hand unter Ritas Hintern gerutscht, gleich beim Hinsetzen (ich schwör dir, das war keine Absicht!), aber sie ließ sich nichts anmerken, starrte wie geistesabwesend, wie in sich hineinhorchend zum Altar, und Diedel fühlte ihre Wärme, die mit osmotischer Kraft durch seine Haut drang mit Ziel auf ein bestimmtes Körperglied, nein, nicht schon wieder dachte er entsetzt, da wurde er auch schon von einem prickelnden Schauer geschüttelt.

Rita hatte kaum merklich gezuckt, hatte sich noch stärker an Diedel gedrückt, und „da war er wieder, dieser elende Blick, zum Gruße, alter Freund. He, kannst du dir meine Situation überhaupt vorstellen?“

„Nee, kann ich nicht, kommt mir abartig vor."

Die beiden Freunde kehrten wieder an ihren Tisch zurück. Rita studierte die Speisekarte, Jerry beugte sich zu Diedel und flüsterte :

 "Und Constanze? Hat die was gemerkt?“

„Was weiß ich, diese Scheißweiber!“ Röhrte Diedel, und die anderen Trauergäste hoben abrupt ihre Köpfe und starrten Diedel für zwei, drei Sekunden entgeistert an, um sich dann wieder der Sahnetorte zu widmen.

Rita hatte nicht nur ihren ersten Macker geheiratet (das passt doch alles nicht zusammen, dachte Jerry) sondern ihren Nachnamen Korditzke in Brandstetter geändert, nicht mal Korditzke-Brandstetter, wie es zu Zeiten ihrer Verehelichung für jede emanzipierte Frau Pflicht und Schuldigkeit zu sein hatte. Ein letzter Rest von Beklopptheit, dachte Jerry wehmütig. Ihre Kinder werden es ihr danken.

Schmolke, der sich warmgeredet hatte, verließ das Thema Charaktergemälde eines Unbekannten, der sich nicht mehr wehren kann und wandte sich den konkreten Lebensdaten des Delinquenten zu. 

Mit großer Hingabe habe Jockel Meier seiner Berufung gedient, habe zielstrebig auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt, dann das Studium in Oldenburg und Münster. Selbstlos habe er sich hernach in den Dienst des Staates begeben, um hier seine in frühester Kindheit als zartes Pflänzlein angelegte Lebensaufgabe zu hegen und aufblühen zu sehen. An der Realschule, erst Krefeld, dann Emden, zuletzt Celle habe er in den Fächern Deutsch und Kunst der Jugend mehr als nur Wissensanhäufung unterbreitet; vielmehr habe er paradigmatisch vorgelebt, wie Nähe – jawohl Nähe und Einfühlung – aus der Beschäftigung mit der Ästhetik als übergeordnete Lebensweihe…

Hier befielen Pfarrer Schmolke offenbar selbst Zweifel über den zusammengepfriemelten Text, denn er stockte und fuhr sich düster mit der Hand über die Stirn.

So ein Quark, dachte Jerry. Nähe, na das kann ich mir gut vorstellen. Vermutlich hat unser Jockele den Lehrerberuf ergriffen, um seine pädophilen Vorlieben paradigmatisch vor- bzw. ausleben zu können.

 

Um dem Elend der pastoralen Laudatio ein Ende zu bereiten und weil auch das Ritual der Beerdigung der gängigen Norm entsprach und somit nicht weiter erwähnt werden muss, sollen hier nur noch die weiteren Lebensstationen des Jockel Meier in Stichworten mitgeteilt werden:

 

1987   Versuch einer Ehe mit einer Kollegin (Sport, Mathematik); missglückt

1992/94   Veröffentlichung von zwei Gedichtbänden im Eigenverlag; unbeachtet

bis 2003   Urlaubsfahrten mit dem Wohnwagen in jeder freien Ferienminute: Klischeeübernahme durch Kollektivzwang des Kollegiums

Zwei Kunstperformances:

1998   in Wildeshausen; Strafanzeige wg. Erregung öffentlichen Ärgernisses

2001   am Wilhelmshavener Südstrand: Abbruch wg. tätlicher Übergriffe empörter Eltern

2003   Suspendierung; die letzten Jahre als Privatgelehrter tätig; Nachhilfeunterricht

wechselnde Mietwohnungen; kaum Hausrat; tausende Bücher

Lungenkrebs

 

Jockel Meier hatte sich als Totenmusik seinen alten Elvis-Song gewünscht: "One night with you". Das war der Song, dessen Text er seinerzeit auswendig konnte und weswegen er als Sänger für die Schülerband der Beklopptesten vorgesehen war.

Der Recorder stand oben auf der Empore, war zu laut eingestellt und schepperte. Rita fing an zu heulen, Jerry schnupfte. Jockels Eltern verharrten bis zum letzten Ton, unbeweglich und mit bösem Gesicht.

Als Grabinschrift hatte sich Jockel nur zwei Worte erbeten: Scheiß drauf. Das wurde von der Friedhofsverwaltung abgelehnt.

Man kann nicht alles haben im Leben.

 

 

 

 

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One night with you
Is what I'm now praying for
The things that we two could plan
Would make my dreams come true

Just call my name
And I'll be right by your side
I want your sweet helping hand
My loves too strong to hide

Always lived, very quiet life
I ain't never did no wrong
Now I know that life without you
Has been too lonely too long

One night with you
Is what I'm now praying for
The things that we two could plan
Would make my dreams come true