Hans Joachim Teschners

Lebens-Quark 34

 


 

 

 

 

Das war ein Novum: Zur Tür kam ein schratiges Individuum herein, Vollglatze, Vollbart, graugesichtig, den dürren Körper krumm gebogen, im Ganzen aber untadelig mit einem Anflug von Noblesse. Kam in die Kneipe spaziert, legte seine fleckige Windjacke ab und setzte sich ungezwungen und irgendwie weltläufig zu uns. Seine Jacke hatte er zuvor wie wir anderen über den Hocker gestülpt, als Kissen, Gesäßschoner und zur Bewahrung der guten alten Sitte.

So hatte es zu sein.

Mit den Jackenärmeln kannten wir kein Mitleid. Da sie im Verhältnis zu den Hockern zu lang waren, touchierten sie die Bodendielen, nahmen Dreck auf und hatten einen Fußabtritt zu vertragen. Bei guter Witterung tunkten sie auch schon mal in eine Bierpfütze. Nichts für Bürohengste in ihren Nadelstreifen und dem Chichi-Gelaber zu schlabrigen Afterwork-Cocktails.

Diese Windjacke aber! Die kannte ich nur zu gut. Hatte er etwa in all den Jahrzehnten immer nur diese eine Jacke getragen?

Das muss Jockel Meier sein, flüsterte ich. Diedel hob finster eine Augenbraue.

„Was hast du gesagt?“ dröhnte er.

Diedel hat einen Gehörschaden. Seit unserer Heavy-Metal-Ära. Beugt sich bei einer Probe zu seinem Marshall-Turm, kniet nieder, das Ohr lauschend an die Bespannung gepresst und ruft: „Da kommt nichts!“

Ex-Gymnasiast Hermann 'Quintus' Grotelüschen, unser Bassgitarrist mit dem Quintenzirkeltrauma, schlägt daraufhin mit der Faust auf den Verstärker, so wie wir es schon beim Vox AC 30 praktiziert hatten, wenn die Potis mal wieder knarzten. Der Marshall rührt sich nicht.

„Es kommt immer noch nichts“, ruft Diedel und schrappt mit dem Plektron wild über die Leersaiten. Hermann, der Quintus, macht sich an der Rückwand des Verstärkers zu schaffen. „Und nu?“

Wieder nichts. Hundert Watt und das Ergebnis: Null.

Quintus zieht an den Kabeln, ruckelt an den Verbindungssteckern. Derweil forkt Diedel immer hektischer auf der Gibson herum, ein Ohr fest gegen die Bespannung gedrückt. Plötzlich knackt der Verstärker, eine furiose Detonation kreischt aus den Lautsprechern, die Bespannung bläht sich von dem Luftdruck, sackt zurück, flattert noch ein paar Mal – dann ist Stille. Diedel liegt verkrümmt vor der Box und hält sich die Ohren zu.

Alle acht Lautsprecher hatte es zerfetzt, und Diedel trug einen irreparablen Hörschaden davon. Es dauerte Monate, bis sich der Tinnitus in seinem Kopf etwas zurücknahm. Der kregle Pfeifer habe sich als Dauergast in seiner Ohrenpension kommod eingerichtet, pflegte Diedel mühsam zu scherzen. Täglich würde sich der Untermieter in der Kunst der Hausmusik ergehen und Etüden gewissenhaft repetieren. Neuerdings würde er sich auf das hohe C kaprizieren, und zwar mit einer solchen Leidenschaft und Intonationstreue, da würden Pavarotti und seine Tenoristenkumpel vor Neid ergreisen.

Zum Beweis hielt sich der ewige Zweitgitarrist beide Ohren zu, lauschte intensiv nach innen hinein, was er zum Ausdruck brachte, indem er die Augen dramatisch nach hinten verdrehte und die Zunge linksseitig herausstreckte, worauf rechtsseitig ein Höhlung entstand, aus deren Dunkel ein Laut hervorkroch. Der Laut wandelte sich zu einem feinen Summton, der Summton wurde durch geschicktes Kehlkopf- und Rachenraummanagement verstärkt und vom Besitzer der Mundhöhle klagend der, man muss schon sagen, schwer konsternierten Hörerschaft zur Begutachtung vorgelegt. 

Dieser Ton war es angeblich, den der kregle Pfeifer dem Diedel ins Gehirn blies.

Und wahrhaftig, es war ein C, wie wir anhand mehrerer Versuchsreihen herausfanden. Diedel hatte einen unverrückbaren Referenzton im Ohr!

„Dann kann ich mich ja als Chorleiter bewerben“, freute er sich etwas voreilig, „da brauch ich noch nicht mal ne Stimmgabel.“

Chorleiter bei wo? Bei wem? Diedel, die alte Heavy-Metal-Warze, als Chorleiter, hinten im klammen Saal einer Vereinskneipe (Schützen, Skat, Kegeln), vor einer unbarmherzigen Rotte blumenkohlfrisierter Hausfrauen mit Rüschenblusen, dem humorfreien Kassenwart und 1. Vorsitzenden mit der Quetschkommode im Nacken, mich juckt‘s in meinen Wanderschuhen, die Gedanken sind frei, auf auf zum fröhlichen Jagen?

Nee!

Der neue Kneipengast, den ich für die Wiederankunft des legendären Mystikers, Existenzialisten und Dauermasturbisten Jockel Meier hielt, rückte näher zu uns und bestellte einen Absinth.

Boah! Absinth! Das war Jockel Meier, keine Frage.

Reinhard, der Wirt, glotzte Jockel an und krächzte „Wie immer?“ Abstand verschaffen, sich sammeln. Das Wort Absinth lag außerhalb seines Sprachraumes. Reinhard kannte Wörter wie Fürst Bismarck, halber Liter, wie immer. Fürst Bismarck war ein friesischer Korn, halber Liter ging zur Not als Weißbier durch und wie immer bedeutete wie immer, nämlich ein gezapftes Jever Pils, auch als halber Liter, je nach Person und Bierdeckeleintrag. Absinth müsste im Internet nachgeguckt werden, Wikipedia und so. Die Alte Mühle hatte aber kein Wiki, sondern nur einen verqualmten Eichenschrank für das Wesentliche: Bierdeckelstöße, Pokale, Sportfotos schwarzweiß, vergilbende Grußkarten aus Mallorca, Teneriffa, Split, Djerba und den ganzen übrigen Tinnef, sogar einen bajuwarischen Korkenzieher mit einem Griff aus geschnitztem Hirschgeweihimitat, nie gebraucht, eine Weinflasche hätte sich Reinhard erst vom Kiosk am Bahnhof besorgen müssen, aus dem obersten Regal knapp unter der heißen Lampe, Dornfelder lieblich, aber hallo.

„Du bist doch der Jockel!“ schrie Diedel, „ganz schön runtergekommen, du alter Sack!“ Er haute dem alten Sack mit seiner Prolo-Pranke wuchtig auf den Rücken. Jockel Meier klappte zusammen, verlor die Restfarbe aus seinem ohnehin graufaltigen Gesicht und japste mit tränenden Augen nach Luft. Keuchend raffte er sich wieder auf und versuchte Diedel mit ein paar dürren Argumenten auf Abstand zu halten, Argumente, dürr wie sein Leib. Die dürren Argumente amüsierten uns nicht.

Jockel Meier hatte Lungenkrebs.












































































 

 

 


 

 

 

 

Neues von Dr. Brandstetter

 

  Dr. Brandstetter
 










Die Idee

Mitunter kam Dr. Brandstetter auf die ihm selbst nicht ganz angenehme Idee, er müsse einen Seitensprung wagen, wie auch immer dies zu bewerkstelligen sei. So ein Seitensprung sei unabänderlich in Zeiten, in denen Ehen geschlossen würden, die nur dazu gedacht seien, zu einem oder besser noch zu ständigen frivolen Eskapaden zu ermuntern. Schließlich läge es in der Logik der Sache, dass ein Seitensprung erst durch die Eheschließung ermöglicht würde. Oder zumindest durch eine verbindliche Freundschaft, die auf Treu und Glauben basiere. Jedenfalls, so resümierte Dr. Brandstetter, belegten ja die Statistiken, wohin der Zug abgefahren sei. Moderne Zeiten halt. Nicht auszuschließen, dass er selbst bereits den Anschluss verpasst hatte.

Auf seinen wenigen Geschäftsreisen hatte Dr. Brandstetter bisher keine Gelegenheit, seine Idee in die Tat umzusetzen. Weibliche Exemplare, die ihm für den angepeilten Zweck geeignet schienen, saßen selten in den Hotellobbys herum. Freilich war Dr. Brandstetter, wie er sich eingestand, nicht gerade der Prototyp eines Casanovas oder eines mit Galanterie für sich einnehmenden Charmeurs. Eher der Typ solider Buchhalter. Unscheinbar im Ganzen. Kein Draufgänger.

Es müsste schon auf mich zukommen, dachte Dr. Brandstetter, nachdem er seinen Apfelsaft bezahlt hatte und vom Barhocker rutschte, um auf sein Hotelzimmer zu gehen. Die Leute in der Hotelhalle blickten ihm nach. Eine Dame winkte ihm angeregt zu, eine andere errötete, als er sie versehentlich am Arm streifte. Und da waren noch die beiden Blondinen mit den tief ausgeschnittenen Dekolletés, die sich ihm in den Weg stellten, sich unverhohlen anboten. Dr. Brandstetter wich ihnen höflich aus und drückte auf den Fahrstuhlknopf.

Dies ist eben nicht mein Tag, dachte er bitter.

 

 

 

 

Knopf drücken, schlau werden:  Quark 35

 

zurück nach Biographie          II. KONVOLUT

Warnungen, AGB, Dementi, Kleingedrucktes, Blog: