Hans Joachim Teschners
Lebens-Quark 56
Kompendium des Wissens
Viele Naturvölker gebärden sich angesichts dieser Tätigkeit wie der Ochs vorm Scheunentor. Im Regenwald soll es sogar dahin und daher wandernde Menschen geben, die sich keinen Reim darauf machen können, warum sie hin oder her wandern, genauso wenig wie sie imstande wären, ein Fenster zu öffnen, denn das Fensteröffnen setzt die Existenz eines Fensters sowie eines Wesens voraus, das gedanklich das Procedere des Fensteröffnens als durchgerechnetes Modell antizipieren kann, welches nötig ist, um einen operativ erfolgversprechenden Vollzug des Fensteröffnens auszuführen, denn aufgrund seiner genetischen Disposition ist es dem Menschen nicht vorgegeben, das Fensteröffnen quasi aus dem Lamäng, also instinktiv, ohne Strategie oder kalkuliertem Willensakt vorzunehmen.
Die o. g. Voraussetzungen aber – man mag es noch so sehr bedauern – fehlen dem Wanderindio des Regenwaldes.
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Dr. Brandstetter |
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Dr. Brandstetter hatte sich zwei Skistöcke gekauft. „Ab dem morgigen Tag werde ich Nordic Walken“, rief er in durch den Flur in Richtung Schlafzimmer, „es wird Zeit, dass ich etwas für meine Gesundheit tue.“ „Tu das“, hörte er die vertraute Stimme, die der Frau in seinem Haus angehörte. „Etwas Bewegung könnte auch dir guttun“, setzte er hinzu, allerdings ohne Hoffnung. „Soll das heißen, dass ich zu dick bin?“ Die Stimme der Frau hatte sich verändert. Es ist nicht gerade ein Kreischen, dachte Dr. Brandstetter, eher eine Erhöhung der Lautstärke, einhergehend mit einer Zunahme des hohen Frequenzanteils gedämpft durch den schweren Vorhang, den sie vor die Schlafzimmertür angebracht hatte. Um einzutreten musste der Vorhang zur Seite geschoben werden. Dann erblickte man das Panorama einer Gebirgsszene mit sprudelndem Bach und einem Hirschen, der das Maul geöffnet hatte. Vorige Woche hatte die Frau die Fototapete auf die Schlafzimmertür geklebt. „Vermutlich um zu röhren“, murmelte Dr. Brandstetter im Beisein seiner geistigen Kräfte.
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Kompendium des Wissens
In der düsteren Epoche der Fensterlosigkeit hausten die Menschen im Geviert ohne Hoffnung auf Licht, Schein oder Schimmer. Erst die Erfindung des Fensters brachte einen gewissen Vorteil, denn nun durchbrach ein erhellendes Loch den Lehm und das Reisig und verzauberte mit seinem Glanz die verschwiegenen Geheimnisse der Dunkelheit: In den Ecken der Hütte hatten es sich fremde Gestalten wohnlich eingerichtet, manche trugen noch die Kleidung der Eisenzeit, manche trieben Unzucht mit vierbeinigen Wesen, manche hatten das Zeitliche gesegnet. Das hätte man klaglos hingenommen, aber dann schlugen auch noch die Versuche fehl, das gezähmte Wisent durch die neuartige Öffnung in die Hütte zu treiben. Der Vorschlag, eine Tür in die Hüttenwand zu bauen wurde vehement abgelehnt, denn das Wort Tür klang beängstigend und hatte ein ü in der Mitte. Schließlich wurde erwogen, zum Zwecke des Vieheinholens den Fensterrahmen herauszunehmen, um den nötigen Platz zu schaffen. Die Kunst des Fensteröffnens war geboren! Natürlich war es mühselig, erst den Rahmen passgenau in das Loch zu fügen, dann wieder herauszuschlagen, das Vieh durchzuquetschen und danach wieder einen neuen Rahmen zu schnitzen und einzupassen. Aber die Historie lässt sich nachträglich nicht korrigieren.
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